Displays und Screens sind Schlachtfelder im Propagandakrieg. Ikonische und emotionale Bilder siegen. Faktenübermittlung in Textform bleibt in der Defensive
Als Jugendlicher lief ich in Frankfurt 1974 einem Transparent hinterher, das am Kopf einer Demonstration hochgehalten wurde. Ein begabter Genosse hatte darauf in monumentaler Dimension zwei Fotografien nachgemalt. Das Bild der nackten, ausgemergelten Leiche des Holger Meins auf dem Obduktionstisch und das eines halb verhungerten KZ-Häftlings. Fasst man die insinuierte Botschaft dieser Bilder in Worte, wie würden sie lauten? Etwa so: Stirbt ein RAF-Gefangener im Hungerstreik, ist dies moralisch gleichzusetzen dem erzwungenen Hunger in den NS-Konzentrationslagern. Hätte dieser Text auf dem Transparent gestanden, wären möglicherweise einige Demonstranten – vielleicht sogar ich – nachdenklich geworden. Doch die Bilder zielten nicht auf unsere Köpfe, sondern auf die Herzen. Wir fühlten Unrecht und Unmenschlichkeit – empörten uns und wurden zu nützlichen Idioten der Terroristen.
Die manipulative Macht von Schockbildern beschränkte sich nicht auf die paar Tausend jugendlichen RAF-Sympathisanten. Auch die ganz normalen Bürger orientierten sich schon damals an den Botschaften der Bildmedien. 1975 endete der Vietnamkrieg durch den Abzug der US-Armee. Es war der erste Krieg, der im Fernsehen verloren wurde. Die Amerikaner sahen auf den Bildschirmen vornehmlich die Schandtaten ihrer eigenen Armee: Leidende Kinder, brennende Dörfer, chemisch entlaubter Dschungel. So schwand der Rückhalt für den Krieg jedes Jahr ein bisschen mehr. Bis eine Mehrheit oder zumindest eine artikulationsstarke Minderheit den Abzug forderte und Präsident Nixon ihn anordnete.
Ganz ähnlich reagierte die amerikanische und europäische Öffentlichkeit heute angesichts der Schreckensbilder aus Gaza. Wobei die Propaganda-Experten der Hamas und des türkischen Netzwerks der Muslimbruderschaft skrupelloser und raffinierter vorgehen als die Vietnam-Reporter von damals. Diese versuchten in der Regel noch, das Leid der Zivilbevölkerung ehrlich zu dokumentieren. Heute wird das Leid inszeniert. Und das nicht erst im jüngsten israelischen Krieg gegen Hamas und Hisbollah, sondern in allen Nahost-Konflikten der vergangenen Jahrzehnte. Die erschütternden Bilder von an Erbkrankheiten leidenden Kindern, die eine Hungersnot beweisen sollen, sind nur ein Glied in einer langen Kette von Foto-Inszenierungen, für die Zyniker das Wort „Pallywood“ erfunden haben. Den wenigsten westlichen Journalisten fiel auf, dass die Mütter und Geschwister auf den Fotos wohl genährt sind – mitten in der Hungersnot.
„Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“, lautet eine deutsche Redensart. Ob es mehr sagt, ist fraglich. Sicher dagegen ist, dass es stärker wirkt. Dies kann der Aufklärung dienen, sofern es die reale Welt ehrlich dokumentiert. Oder der Desinformation – und dadurch lügenhafter sein als 1000 Worte es vermögen.
Im 20. Jahrhundert logen die Stalinisten am fleißigsten und auch erfolgreichsten durch Bildmanipulation, oder Retusche, wie man damals sagte. Ihr Ziel war vornehmlich das menschliche Gedächtnis. Die Erinnerung an Ereignisse und Personen sollte gelöscht werden, genauso wie es George Orwell später in „1984“ beschrieben hat. Wen Stalins Zorn traf, der wurde wie Trotzki, Sinowjew, Bucharin und viele andere aus Fotografien und Filmen entfernt. Als überaus wirksam erwiesen sich auch gestellte heroische Szenen, die vorgaben, authentische Dokumente zu sein, etwa der Sturm aufs Winterpalais oder das Hissen der sowjetischen Flagge auf dem Brandenburger Tor. Im Gegensatz zu Stalins Retuscheuren, geht es heutigen Bildmanipulatoren weniger um Heldenposen oder das Verschwindenlassen unliebsamer Personen, sondern um den Appell an das Gute im Menschen: Mitleid, Sympathie, Empörung gegen Unrecht, große Gefühle.
Kulturwissenschaftler sprechen vom „Iconic Turn“. Das Argument, die Faktenanalyse, die Bedeutung der Sprache an sich wird abgelöst von der Herrschaft der Bilder. Eine Bewegung „vom Weltbild zur Bilderwelt“ sagt Bazon Brock. Womit wir wieder auf dem Stand unsere Ahnen ankommen, die vor der Alphabetisierung Europas ihr Weltbild aus den bunten Bildern an den Wänden und Decken der Kirchen bezogen. Diese Bilder wirken bis heute nach. Maria, die ihren toten Sohn betrauert, David gegen Goliath, die heilige Familie auf der Flucht. Viele der inszenierten Fotos aus Nahost stellen solche biblischen Motive nach, die aus dem kollektiven Gedächtnis westlicher Medienkonsumenten wachgerufen werden können.
Es müssen nicht immer biblische Ikonen sein, die emotionale Aufwallungen auslösen. Manchmal genügt das Bild eines alten, abgemagerten Eisbären. Ein kanadischer Klimaaktivist hatte es 2017 aufgenommen, und Bildagenturen schickten es um die Welt. Versehen mit Kommentaren wie „so sieht der Klimawandel aus“. Die Publikumsmedien Nordamerikas und Europas deuteten das mitleiderregende Tier als unumstößlichen Beweis einer Klimaapokalypse. Der Hinweis darauf, dass auch Wildtiere alt werden, abmagern und sterben, galt als Blasphemie.
Bis heute werden Fotos von Hühnern mit zerzausten Federn als Beleg für grausame Tierhaltung gezeigt. Unerwähnt bleibt dabei, dass alle Vögel – auch das glückliche Freilandhuhn – von Zeit zu Zeit ihr Federkleid wechseln, was man Mauser nennt. Selbst Bilder von Gebäuden können starke Emotionen auslösen. Überaus wirksam erwies sich 2011 das Foto von der Dampfwolke, die aus dem durch einen Tsunami zerstören Atomkraftwerk Fukushima austrat. „Der Spiegel“ Zeigte es auf dem Titelblatt, versehen mit der Zeile: „Da Ende des Atomzeitalters“. Eine Prognose, die kurze Zeit später Kanzlerin Merkel für Deutschland wahr werden ließ.
Natürlich haben alle möglichen Interessengruppen, Lobbys und Politiker längst kapiert, dass der „Iconic Turn“ stattgefunden hat. Ein Pionier auf diesem Gebiet war Greenpeace. Die PR-Abteilung der Spendenorganisation schuf mit der Ikone „Schlauchboot vor Tanker“ ein eigenes Genre der Bildgestaltung. Jahrelang druckten Zeitschriften immer wieder die Aufnahmen von Aktivisten mit Gasmasken und weißer Schutzkleidung, die auf Feldern gegen Gentechnik-Pflanzen protestieren. Selten sah man einen weiteren Ausschnitt, der die ebenfalls anwesenden Polizisten und Schaulustigen ganz ohne Schutzkleidung zeigte. Ebenso selten stand in den dazugehörigen Texten die Information, dass die Aufmachung der Aktivisten nichts weiter als ein Kostüm ist, um Aufmerksamkeit zu erregen. Einen ähnlichen Effekt erreichten die feministischen Aktivistinnen der Gruppe „Femen“, indem sie bei ihren Protestaktionen mit freiem Oberkörper auftraten. Ab den 1990er-Jahren imitierten Politiker immer häufiger die visuellen Lockmittel der Aktivisten. Einige, wie Jürgen Möllemann und Norbert Blüm, setzten sich unermüdlich mit klamaukigen Fototerminen in Szene.
Die ganz große Bühne für Fotopropaganda wurde unterdessen im Nahen Osten eröffnet. Unvergessen Jürgen Todenhöfer, der sich 2014 auf Trümmern in Gaza sitzend ablichten ließ, umgeben von sorgfältig drapiertem Kinderspielzeug und einem leeren Kinderwagen. Oder der Fall des kleinen Jungen Muhammad Al-Durrah, der im Jahr 2000 angeblich von israelischen Soldaten getötet wurde. Das ikonische Foto wurde sogar auf Briefmarken gedruckt. Recherchen ergaben, dass es sich bei dem Vorfall um eine propagandistische Inszenierung handelte. Nur zwei Beispiele aus einer jahrzehntelangen Endlosserie der Pallywood-Studios. Dennoch fallen westliche Journalisten und Politiker jedes Mal aufs Neue darauf herein. Wie jetzt bei den angeblichen Beweisfotos für eine Hungersnot in Gaza.
Worte dagegen sind machtlos. Allerdings verlieren Foto-Inszenierungen dann ihre Wirkung, wenn größere Teile der Bevölkerung das reale Geschehen mit eigenen Augen sehen können. Ein Beispiel hierführt ist die Ankunft Hundertrausender Migranten im Jahr 2015. Im Fernsehen und in den Zeitungen sah man vornehmlich Frauen mit Kindern. Doch in den Asylunterkünften vor Ort kamen überwiegend junge Männer an. Dies beschädigte die Glaubwürdigkeit der großen Publikumsmedien nachhaltig. Immerhin trauen die meisten Menschen weiterhin ihren eigenen Augen mehr als den Bildern.