Weshalb das woke Denken den Nationalpopulisten geholfen hat und was die bürgerliche Mitte jetzt tun kann, um einen Pendelschlag nach Rechtsaußen zu verhindern: Der Historiker und liberal-konservative Vordenker Andreas Rödder über die Abenddämmerung einer Epoche
Frage: Sie haben in Essays und Interviews die These aufgestellt, dass die kulturelle Vorherrschaft der Grünen und der den Grünen nahestehenden Organisationen vorüber sei? Andere Politikanalysten behaupten das Gegenteil. Wie geht‘s dem grünen Zeitgeist, Herr Rödder?
Andreas Rödder: Unbestritten dominiert die grüne Deutungshoheit in vielen Foren und Institutionen nach wie vor. In deutschen Universitäten wird weiterhin hartnäckig mit Doppelpunkt und Stern gegendert. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk können Mitarbeiter die Sendung von Frau Ruhs sabotieren und Elmar Theveßen kann Behauptungen aufstellen, die hart an der Grenze zu Fake News sind. Aber in beiden Fällen kann man sehen, wie Widerstände wachsen. Auf der Ebene der Alltagsevidenz merke ich deutlich, wie der Spielraum des Sagbaren weiter geworden ist, beispielsweise auf Podiumsdiskussionen, zu denen ich eingeladen werde.
Bei welchen Themen sehen Sie Risse in der seit Jahrzehnten eingeübten Weltsicht?
Die grüne Deutungshegemonie hat sich vor allem auf drei Themenfeldern etabliert: Energie und Klima, zweitens Migration und Integration, und schließlich Sexualität, Geschlecht, Diversität. Auf allen diesen Feldern erleben wir einen massiven Umschwung des öffentlich Sagbaren. Es ist mittlerweile möglich zu sagen, dass die Klimaschutzziele schädlich für das Land sind. Es ist sogar möglich, über den Wiedereinstieg in die Kernenergie zu reden. Im Bereich der Migrationspolitik hat der 7. Oktober 2023 das Thema „importierter Antisemitismus“ auf die Tagesordnung gebracht. Dass die Folgen der Migrationspolitik seit 2015 massiv schädlich sind, ist ebenfalls in den Bereich des Sagbaren gerückt. Auch in der Geschlechterpolitik ist die Zeit vorbei, als die Feststellung, es gebe bei den Menschen zwei biologische Geschlechter, als Akt sprachlicher Gewalt diffamiert wurde. Man merkt, dass sich die Grenzen des Sagbaren verschieben. Wie immer handelt es sich zunächst um ein Phänomen der Avantgarde. Aber so ist das, wenn die Zeiten sich ändern. Erst biegt die Vorhut ab, der Rest läuft noch eine Weile in die andere Richtung. Meine These lautet, dass die 2010er-Jahre durch die grüne kulturelle Hegemonie geprägt waren und dass heute das Pendel massiv nach rechts ausschlägt. Das sehen wir in allen westlichen Gesellschaften. Allen voran in den USA mit Trump.
Andreas Rödder. Fotograf: Carlo Müller-Hopp, honey-studio
Prof. Dr. Andreas Rödder lehrt Geschichte an der Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Senior Fellow am Kissinger Center for Global Affairs an der Johns Hopkins University in Washington D.C., sowie Gründer und Leiter der liberal-konservativen Denkfabrik Republik 21. Seit Erscheien seines Buches „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015) zählt er zu den meistzitierten Intellektuellen Deutschlands. 2024 erschien „Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt“.
„DER ÖFFENTLICH-RECHTLICHE RUNDFUNK LEBT IN EINER BUBBLE“
In den großen Publikumsmedien, insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wird nach wie vor jedes Wetter zum Symptom einer Klima-Katastrophe erklärt und jegliche Kritik an unkontrollierter Einwanderung mit Rassismus gleichgesetzt. Das ist die Informationsbasis für Millionen Bürger. Warum sind Kulturbetrieb und Medienbranche weiterhin tiefgrün?
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk lebt in einer Bubble und realisiert nicht, dass er die Fundamente seiner Legitimität aushöhlt. Mich erinnert das an Speedy Gonzales, der im Trickfilm über eine Klippe läuft und noch eine Weile in der Luft weiterennt. Dann realisiert er, dass kein Boden mehr unter den Füßen ist und stürzt senkrecht ab. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat sich um seine eigene Glaubwürdigkeit gebracht. Allein dieser Mitarbeiterprotest gegen Julia Ruhs war ein Akt purer Dummheit, sich sogar noch das Feigenblatt abzureißen. Die Akzeptanz ist so geschädigt, dass einschneidende Entscheidungen immer wahrscheinlicher werden. Was passiert denn, wenn die AfD kommendes Jahr die Wahlen in Sachsen-Anhalt gewinnt und den Rundfunk-Staatsvertrag kündigt? Dann könnten auch Dominoeffekte eintreten. So etwas kann ganz schnell passieren. Wer jahrzehntelang auf legitime Kritik nicht reagiert, darf sich nicht wundern, wenn die Dinge schnell zusammenbrechen.
Als Historiker habe ich ein Buch über die Wiedervereinigung geschrieben. Es ist interessant zu lesen, wie die Mitglieder des SED-Politbüros im August 1989 die Lage einschätzten. Die glaubten, alles sei in Ordnung, alles sei stabil. Bekanntlich fiel drei Monate später die Mauer. Vermeintlich fest gefügte Dinge können sehr schnell in sich zusammenbrechen.
Woher kommt eigentlich der Glaube vieler Konservativer und Liberaler, dass privater Rundfunk besser wäre? Deren journalistische Formate sind ebenso einseitig. Denken Sie nur an den Aufruf der sogenannten Kulturschaffenden gegen Israel. Er wurde von zwei Pro7-Schauspielern angeführt.
Es geht nicht darum, dass der private Rundfunkt besser wäre. Es geht um Vielfalt und Breite statt Einseitigkeit, und dass auch noch zwangsgebührenfinanziert. Mit diesen Ressourcen ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk nach wie vor ein Referenzpunkt, an dem sich auch die Privaten orientieren. Aber das verliert alles ohnehin an Bedeutung. Lineares Fernsehen nutzen nur noch Menschen über 50.
Wir sind Ü50 und tun das schon lange nicht mehr.
Eben. Sie sehen ja, wie sich die politische Öffentlichkeit über Social Media entgrenzt und wie sehr sie sich aufsplittert. Dennoch ist der ÖRR immer noch ein Referenzpunkt für andere mediale Formate.
„DIE WIRTSCHAFTLICHE KRISENSITUATION HAT DAS LAND MENTAL NOCH NICHT ERREICHT“
Liegt die Ursache des von Ihnen diagnostizierten Umschwungs in der Wirtschaftskrise, in der Deutschland momentan steckt? Denken die Menschen um, weil sie Angst um ihren Job haben, ihr Haus nicht mehr abbezahlen können?
Das ist momentan noch nicht ausschlaggebend, könnte aber so kommen. Kürzlich hat Bosch angekündigt, weitere 13.000 Stellen abzubauen. Nur eine Hiobsbotschaft unter vielen in jüngster Zeit. Diese Entwicklung wird sich vermutlich noch verschärfen. Nach meiner Beobachtung hat die wirtschaftliche Krisensituation das Land mental noch nicht wirklich erreicht. Der Nachhall der vermeintlich guten Zehnerjahre wirkt weiter. Zumal aufgrund der demographischen Entwicklung bislang das klassische Krisenmerkmal, nämlich Massenarbeitslosigkeit, noch nicht eingetreten ist. Die eigentliche Krise wird noch kommen.
Die reale Situation ist das eine. Es kommt aber auch darauf an, was Menschen für die Zukunft erwarten beziehungsweise befürchten.
Ja. Das ist auch eine Erklärung für die Erfolge der AfD. Die AfD-Wähler sind ja nicht die Abgehängten, sondern Leute, die etwas zu verlieren haben. Die Furcht vor Statusverlust ist sicherlich eine Triebkraft des politischen Umschwungs. Die Regierungspolitik der vergangenen Jahre hat alles getan, um diese Furcht zu verstärken. Das Verbrenner-Aus trifft den Schlüsselsektor der deutschen Industrie. Die deutsche Klima- und Energiepolitik hat die sicherheitspolitischen Grundlagen unterminiert, indem wir uns von russischem Gas abhängig gemacht haben. Und gleichzeitig hat sie der wirtschaftlichen Entwicklung extrem geschadet.
Sie haben vorhin das Wort Alltagsevidenz benutzt. Unsere Alltagserfahrungen sprechen dafür, dass die seit Jahrzehnten vorherrschenden Paradigmen ungebrochen sind. Wer im Milieu der akademischen Mittelschicht daran zweifelt, dass Bio-Supermärkte oder Windparks Problemlösungen schlechthin sind, steht automatisch unter AfD-Verdacht.
Das nehme ich mittlerweile anders wahr. Ich hatte in Köln einen Auftritt auf der „phil.Cologne“, einer Veranstaltung, bei dem sich genau das Milieu versammelt, das Sie meinen. Dort trug ich meine in den Medien höchst umstrittene These vor, die AfD nicht mehr mit einer „Brandmauer“ auszugrenzen, sondern ihr „Rote Linien“ aufzuzeigen, bei deren Einhaltung sie im parlamentarischen System mitwirken könnte. Dort stieß ich auf viel Bereitschaft, solche Positionen in Ruhe anzuhören und nicht reflexhaft mit moralisierender Empörung abzuschmettern. Solche Reaktionen erlebe mittlerweile ich in vielen Foren. Vielleicht ist es eine Frage unterschiedlicher Wahrnehmung. Auch ich habe bürgerliche Freunde und Bekannte, die bei diesen „Demos gegen Rechts“ mitgelaufen sind. Mein Gesamteindruck ist jedoch, dass Kritik an der Energiepolitik und der Migrationspolitik heute eher akzeptiert wird als noch vor wenigen Jahren. Die Unzufriedenheit nimmt zu. Die konservativ-liberalen Neugründungen im Medienbereich konnten nur entstehen, weil es einen Bedarf dafür gibt.
So wie die taz-Gründung 1978.
Die Parallelen sind evident. Die politische Theoriebildung und die interessanten Medienprojekte der 1970er-Jahre waren links. Je mehr die Macht nach links rückte, desto mehr wanderte die Kritik nach rechts. Politische Theoriebildung findet heute nicht links, sondern rechts statt.
„DIE GRÜNEN SIND EIN GENERATIONENPROJEKT“
Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Grünen nicht mehr die Partei der Jugend sind? Bei der Bundestagswahl 2021 wählten noch 23 Prozent der Erstwähler grün. 2025 waren es noch zehn Prozent. Ist das auch ein Indikator für den Umschwung?
Zunächst: Die Erstwählerschaft ist inzwischen extrem volatil, denken Sie nur an den Erfolg der FDP 2021. Insofern sollte man aus diesen Ergebnissen keine zu definitiven Schlussfolgerungen ziehen. Gleichwohl sind die Grünen nicht zuletzt ein Generationenprojekt, und sie sind die Partei der akademisch qualifizierten Mittelschichten, auch im Hinblick auf staatliche Umverteilung. Förderprogramme für NGOs kommen in hohem Maße Initiativen aus einem grün-aktivistischen Milieu zugute, das auf diese Weise mit staatlich alimentiert wird. Von der deutschen Energiepolitik profitiert, wer sich ein Elektroauto leisten kann und ein Haus besitzt, das sich mit Solardach und Wärmepumpe ausstatten lässt. Und auch Landbesitzer, die ihren Boden für viel Geld an Windkraftbetreiber verpachten, sind selten jugendliche Erstwähler.
Links ist das alles nicht…
Die Klügeren unter den klassischen Marxisten hatten einen Sinn für Widersprüche der eigenen Position. Das ist im Zuge der grünen Politik-Moralisierung verloren gegangen. Der mangelnde Sinn für Widersprüche macht selbstgewiss und überheblich. Und genau daran leiden die Grünen jetzt.
Es ist meist von links-grüner oder rot-grüner Politik die Rede. Als seien die beiden politischen Richtungen austauschbar oder zumindest zum Verwechseln ähnlich.
Wir hatten viel eher einen grünen Zeitgeist als einen roten. Eigentlich liegen Welten zwischen einer postmodernen und postmateriellen Partei wie den Grünen, die die akademischen Mittelschichten bedient, und einer sozial-ökonomisch orientierten Partei wie der SPD, die einmal die Partei der Arbeiterschaft war. Sowohl auf der rechten als auch der linken Seite des politischen Spektrums gibt es tiefe Gräben. Die Rechte ist gespalten zwischen den Bürgerlichen und den Populisten. Die Linke zwischen der identitätspolitischen, klimabewegten und woken Linken, die tendenziell bei den Grünen beheimatet ist, und der sozial-ökonomischen orientierten Linken, für die die SPD steht, beziehungsweise stand.
„ICH WÜRDE DER SPD RATEN, SICH AUF IHR KERNGESCHÄFT ZU KONZENTRIEREN“
Die Letztgenannten haben die SPD scharenweise verlassen.
Durch die Akademisierung des Funktionärsapparats geriet die sozial-ökonomische Orientierung der SPD bereits in den 1970er-Jahren ins Wanken. Das ist das große Problem der SPD. Sie ist zwischen diesen unterschiedlichen linken Milieus zerrissen. Und hat dadurch ein wesentlich größeres Strukturproblem als die Grünen, die sich immer auf ihren ideologischen Kern zurückziehen können.
Als konservativer Denker dürfen Sie auch einmal der Konkurrenz einen Rat geben. Was würden Sie der SPD raten? Unter der Prämisse, dass es schade wäre, wenn die Sozialdemokratie nur noch als Splitterpartei weiter existiert?
Ich würde der SPD raten, sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren. Es gäbe ein großes gemeinsamen Thema, an dem die SPD zusammen mit der CDU in dieser Regierung arbeiten könnte. Beide sind davon überzeugt, dass man Wachstum braucht, um Wohlstand zu sichern. Dass dieses Wachstum anders aussehen muss als in den 1960er- und 1970er-Jahren, als man Erdöl gedankenlos verfeuerte, das versteht sich von selbst. Die SPD täte gut daran, ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik vom grünen klimapolitischen Primat zu befreien. Denn die Grünen sind eine Partei, die Wachstum im Kern für ein Übel hält. Wir sehen mittlerweile die Konsequenzen der grünen Klimapolitik – die größtenteils von Angela Merkel umgesetzt wurde. Sie führt zur Deindustrialisierung des Landes. Diesen Zusammenhang erkennen immer mehr Bürger.
Sie raten der SPD, sich von der grünen Klimapolitik zu verabschieden. Augenblicklich haben wir den Eindruck, dass nicht einmal die CDU dazu in der Lage ist. Die Energiewende wird durchgezogen. Dazu hat sich die schwarz-rote Koalition eindeutig bekannt.
Das ist ein Strukturproblem dieser Regierung und auch ein Strukturproblem der CDU. Die Regierung wäre gut beraten, in aller Deutlichkeit die Wende der Energiewende einzuleiten, insbesondere den Wiedereinstig in die Kernenergie. Eine vernünftige Energiepolitik würde die Erneuerbaren weiter ausbauen, aber als Teil eines robusten und nachhaltigen Energiemixes, inklusive Kernenergie. Es ist Irrsinn zu glauben, man könne mit Energieeinsparung die Zukunft gewinnen. Allein der Bedarf der Künstlichen Intelligenz, die die nächste Stufe der industriellen Revolution treibt, wird soviel Energie fressen, dass alle Einsparungsphantasien an der Realität scheitern.
War die grüne Leitkultur eigentlich jemals breit in der Bevölkerung verankert, oder war es immer eine Kultur privilegierter Milieus?
Sie war immer die Kultur einer elitären Minderheit, die aber habituell, als kulturelle Referenz für „falsch“ und „richtig“, in breite Schichten der Gesellschaft eingesickert ist. So wurden die politischen Entscheidungen ihren Vorstellungen entsprechend getroffen. Und das wiederum hat dazu geführt, dass Gegenbewegungen entstanden sind.
…die – siehe USA – in ihrer intoleranten Verbissenheit schauderhaft sind.
Die Gegenbewegungen, die wir jetzt erleben, sind in Teilen ziemlich unappetitlich. Die Fake News der Rechten sind die hässliche Schwester des postmodernen Dekonstruktivismus. Beide zerstörten die Wahrheitsvorstellung eines rationalen Universalismus. Die grün-woken Eliten haben ihre eigenen Gegner ausgebrütet. Diese können sich weniger elegant artikulieren und sind noch stärker von Ressentiments getrieben. Aber sie werden immer stärker.
„ES IST DIE HISTORISCHE VERANTWORTUNG DER CDU/CSU, DIESEN PENDELSCHLAG IN DER RECHTEN MITTE ABZUFANGEN“
Fürchten Sie, dass hierzulande wie in den USA eine wütende Rechte an die Macht kommt, die dann genauso mit Sprechverboten, Zensur, Diffamierung und Drangsalierung missliebiger Kritiker zuschlägt, wie es zuvor die Woken im Rahmen ihrer Möglichkeiten taten?
Das ist meine Befürchtung. Das Pendel schlägt nach rechts. Und die entscheidende Frage ist: Fängt man es in der rechten Mitte ab, oder schlägt es nach rechts außen durch? Nach meinem Dafürhalten ist es die historische Verantwortung der CDU/CSU, diesen Pendelschlag in der rechten Mitte abzufangen. Was mich nervös macht, ist, dass es für diese strategische Einschätzung wenig Resonanz gibt. Stattdessen erleben wir tagespolitisches Kleinklein zur Machtsicherung.
Woran liegt das?
Es ist eine eingeübte Tradition in der Union. Es ist lange her, dass die Union sich ins intellektuelle Getümmel geworfen und vernehmbar gesellschaftspolitische Strategien erörtert hat. Unter Merkel endete es in einem Pragmatismus, der auf reine Machtsicherung zielte. Und dieser Habitus lebt fort: stolz darauf zu sein, Probleme zu lösen und strategische Debatten für Schaum auf der Welle zu halten. Es ist aber kein Schaum, sondern die Tiefenströmung unter der Welle.
Scheut es die CDU/CSU zu sehr, Kulturkämpfe zu führen?
Sie hat sich durch einen billigen rhetorischen Trick ins Bockshorn jagen lassen. Die woke Linke zettelt Kulturkämpfe an, um sich dann darüber zu beklagen, dass die Reaktion darauf ein Kulturkampf sei. Was heißt Kulturkampf? Es ist ein Kompositum aus zwei Begriffen: Kultur und Kampf. Helmut Schmidt hat gesagt, Politik ist immer auch ein Kampfsport. Politik dreht sich meist um materielle Verteilungsfragen. Wir sind es gewohnt, von Verteilungskämpfen zu reden, und niemand hat ein Problem mit dem Begriff. Politik dreht sich aber auch um Sinnfragen. Insofern haben wir es mit Kultur zu tun. Mit dem Begriff Kulturkampf haben jedoch viele ein Problem, weil Kulturkämpfe die anspruchsvolleren Übungen sind. Man muss dafür anders argumentationsfähig sein, als wenn es um Freibeträge für Steuersätze geht. Begriffe, Sinndeutungen und kulturelle Fragen sind die Voraussetzung für Politik. Die Union neigt zu sehr dazu, sich in ihrem vermeintlichen Pragmatismus und ihrer tatsächlichen Machtpolitik einzurichten.
Zurückblickend: Wann begann eigentlich die grüne Leitkultur? Was war der Kipppunkt, um ein Modewort zu benutzen?
Wurzeln der grünen Leitkultur liegen im postmodernen Dekonstruktivismus. Also in der sogenannten „french theory“ von Foucault, Derrida, Lyotard und in den USA Judith Butler. Sie führte zur Infragestellung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde das Ganze intellektuell vorbereitet und sickerte dann nach und nach in die Gesellschaften durch. Der Kipppunkt für die gesellschaftliche Relevanz war die Weltfinanzkrise von 2008, durch die das neoliberale Paradigma zusammenbrach. Auf dieses Vakuum folgte eine breite Akzeptanz grüner Weltdeutungen. Grün wurde zur Leitkultur. Die Ampelkoalition überspannte dann den Bogen. Der Kipppunkt für das Ende dieser unhinterfragten grünen Hegemonie war das Heizungsgesetz. Die Demonstration in Erding 2023, zu der die Kabarettistin Monika Gruber aufgerufen hatte, symbolisiert diesen Punkt.
Zum Abschluss möchten wir Sie noch um kurze Einschätzungen bitten, ob die folgenden Positionen für die bürgerliche Mitte in Deutschland noch anschlussfähig sind – oder diskreditiert, also aus und vorbei.
Schießen Sie los.
Identitätspolitik mit Quoten und „Diversitätszielen“
Läuft in der Politik noch mit. Findet in der Gesellschaft weniger Widerhall.
Eine großzügige Willkommenskultur
Ist vorbei. Für Fachkräfte notwendig.
Eine Klimapolitik, die weltweit Vorreiterin sein will
Ist mit Ausnahme der Grünen und Frau Merkels als kapitale Illusion entlarvt.
Eine affirmative Transgender-Politik.
Hat ihren Höhepunkt längst überschritten.
Das Bürgergeld als de facto bedingungsloses Grundeinkommen.
Den Bürger begrifflich zum Transferempfänger zu machen, war immer schon eine historisch-politische Perversion.