Neue Arbeitswelt blickt auf alte Arbeitswelt (Foto: M. Miersch)

„Die Krise des Allgemeinen“

Von Ellen Daniel und Michael Miersch

Ein Interview mit dem Soziologen Andreas Reckwitz über einen neuen Klassenkampf, der sich nach seiner Analyse nicht mehr zwischen Ober- und Unterschicht abspielt, sondern zwischen einer aufstrebenden neuen und einer im Niedergang befindlichen alten Mittelklasse. Dieser ökonomische Konflikt spiegelt sich im politischen Raum in der aggressiver werdenden Gegnerschaft zwischen Liberalen und Populisten.

Herr Reckwitz, Sie unterscheiden in der heutigen Gesellschaft vier Klassen: Eine sehr kleine Oberklasse von Superreichen, eine alte und eine neue Mittelklasse, zu denen die meisten von uns gehören dürften, und am unteren Ende eine neue „prekäre Serviceklasse“. Warum sprechen Sie von „Klasse“ und nicht von „Schicht“ oder „Milieu“?

 Der Schichtbegriff wird meist über das Einkommen definiert. Das sagt nur bedingt etwas über die kulturelle Lebensführung aus. Der Milieubegriff betont zu Recht diese kulturellen Differenzen, vernachlässigt jedoch die Machtunterschiede zwischen den sozialen Großgruppen, die Unterschiede im Einfluss und Prestige. Der Begriff Klasse ist treffender und genauer. Dabei verstehe ich Klassen nicht im marxistischen Sinne, bei dem es um die Verfügung über Produktionsmittel geht. Vielmehr bewegen sich die Unterschiede zwischen den Klassen auf drei Ebenen: die Unterschiede in der kulturellen Lebensführung, des Alltags und seinen Werten, die Unterschiede in den Ressourcen, das heißt im Einkommen und Vermögen, aber auch der Bildung, also des kulturellen Kapitals, und schließlich die Einfluss- und Prestigeunterschiede. Wenn man eine Oberklasse, eine neue und eine alte Mittelklasse und eine neue Unterklasse unterscheidet, bewegt man sich auf allen diesen Ebenen.

 Trotzdem richtet der Klassenbegriff den Blick wieder stärker auf das Ökonomische. Ist die wirtschaftliche Ungleichheit größer geworden, oder nehmen wir das heute nur sensibler wahr?

Es gab in den letzten Jahren eine große Diskussion um die Superreichen, um die Vermögensunterschiede zwischen den 99 Prozent und dem einen Prozent, der Oberklasse. Das ist eine wichtige Debatte. Aber innerhalb dieser 99 Prozent gibt es erhebliche Unterschiede, und zwar sowohl ökonomischer als auch kultureller Art. Die Einkommensunterschiede zwischen den Mittelklassen und der Unterklasse darf man nicht vernachlässigen. Die Unterschiede zwischen den Gruppen, die ich neue und alte Mittelklasse nenne, liegen jedoch größtenteils nicht auf der Ebene von Einkommen und Vermögen. Es sind vornehmlich kulturelle Differenzen, die wirken. Da geht es um alltägliche kulturelle Praktiken, die Art, wie man lebt und was einem im Leben wichtig ist, wie man arbeitet und seine Freizeit verbringt. Diese kulturellen Differenzen sind mehr als ein Sahnehäubchen auf einem ökonomischen Fundament. Kultur ist mächtig, sie prägt die Alltagswelten und die Art und Weise, wie wir leben. Und das kulturelle Kapital, das heißt das Bildungskapital, ist ein zentraler Parameter, in denen sich neue und alte Mittelklasse unterscheiden.

 Die Oberklasse, also das eine Prozent, sei nicht prägend für Gesellschaft, schreiben Sie. Aber das sind doch die Leute, die immer noch den größten Einfluss auf die Politik haben.

 Dass die Oberklasse überproportionalen Einfluss auf die Politik ausübt, ist zweifellos so. Aber die politischen Konfliktlagen der Gegenwart liegen anderswo begründet: Die Kontroverse zwischen Liberalismus und Populismus wird ja nicht zwischen dem einen Prozent Oberklasse und dem Rest ausgetragen, es ist ein Konflikt zwischen der neuen und der alten Mittelklasse. Und auch was die alltägliche Lebensführung angeht, ist der Einfluss der Oberklasse auf die gesamte Gesellschaft sicher begrenzt. Prägend wirkt hier eher – nach wie vor – das Muster eines ‚Mittelschichtslebens‘ – aber was das heißt, ist mittlerweile zwischen neuer und alter Mittelklasse umstritten.

 Darauf kommen wir gleich noch mal zurück. Zunächst interessiert uns noch ein weiterer Ihrer definitorischen Begriffe. Sie ziehen es vor, von „Spätmoderne“ zu schreiben statt von Postmoderne.

 Die Moderne in der Form einer klassischen, industriellen Moderne war bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein prägend. Es herrscht in der Soziologie weitgehend Einigkeit darüber, dass sie in ihrer Struktur erodiert ist, dass die Gegenwart eine andere Form von Moderne darstellt. Dafür haben wir bis heute jedoch keinen wirklichen eingebürgerten Begriff. Es sind im Grunde alles Verlegenheitsbegriffe – Postmoderne, Spätmoderne, Hochmoderne, Hypermoderne. Früher habe ich auch den Begriff Postmoderne verwendet. Mittlerweile bin ich damit vorsichtiger, weil der Begriff theoretisch sehr aufgeladen ist. Auch stört am Begriff dieses ‚Post‘, das suggeriert, man habe die Moderne quasi hinter sich. Ich gehe jedoch davon aus, dass wir weiterhin in einer modernen Gesellschaft leben: eine späte Moderne. Die Silbe ‚Spät‘ hat allerdings den Nachteil, dass sie nach Endphase klingt.

 So, wie die Marxisten einst den „Spätkapitalismus“ ausriefen, der aber bis heute sehr lebendig geblieben ist.

Wir hatten schon mehrere Modernen, die bürgerliche Moderne des 19. Jahrhunderts, die industrielle Moderne des 20. Jahrhunderts und nun befinden wir uns in einer postindustriellen Version der Moderne. Das heißt nicht, dass das unbedingt die letzte Form von Moderne sein muss. Mit ziemlicher Sicherheit werden weitere Epochen folgen.

 In Ihrem Buch betonen Sie die Bedeutung der kulturellen Differenzen, die stärker auf die Lebenswelten der Einzelnen einwirken als ihre wirtschaftliche Situation. Wir konstruieren jetzt einmal zwei Vertreter aus neuer und alter Mittelklasse: Der in Berlin lebende Hipster und PR-Berater mit kulturwissenschaftlichem Studium, der bescheiden verdient, aber im Habitus sehr gut mitschwimmt im urbanen Milieu der neuen Mittelklasse. Dagegen das Ehepaar mittleren Alters irgendwo in der Provinz, bei dem der Mann als Industrie-Meister in der Automobilindustrie arbeitet und das sein Häuschen im Grünen hat. Dieses Ehepaar ist wirtschaftlich bessergestellt, auch perspektivisch. Viele aus der alten Mittelklasse sind sogar wohlhabend. Dennoch sagen Sie, die alte Mittelklasse fühle sich abgehängt und entwertet.

 Ja, warum eigentlich? Es geht ihnen doch gut, könnte man meinen. Wie entstehen trotzdem die negativen Emotionen, am Ende gar der Populismus? Man muss sich sowohl die neue als auch die alte Mittelklasse näher anschauen. Die neue Mittelklasse sind Akademiker in wissensbasierten Berufen. Durchschnittlich sind sie auch ökonomisch im Aufstieg begriffen. Das zeigen empirische Studien aus vielen Ländern, wo Akademikereinkommen mit Einkommen aus Ausbildungsberufen miteinander verglichen werden – ersteres ist durchschnittlich höher. Aber innerhalb der neuen Mittelklasse existiert ökonomisch eine große Spreizung. Einerseits etwa erfolgreiche Anwälte oder IT-Experten, andererseits Leute in der Kreativbranche oder Künstler, die wenig Geld zur Verfügung haben. Die Vertreter der alten Mittelklasse stehen ökonomisch häufig immer noch recht gut da, sie sind guter Durchschnitt und auch hier kann es im Einzelfall Ausschläge nach oben geben, etwa bei Selbständigen. Wenn wir allerdings den langfristigen Wandel im Blick haben, sind die Akademiker, also die neue Mittelklasse in den letzten Jahrzehnten in den westlichen Ländern eine Gruppe im Aufstieg. Umgekehrt: die mittleren Bildungsabschlüsse, die mittleren Berufe, die kleinstädtischen Regionen – die Orte der alten Mittelklasse verlieren langfristig an Prestige. Die Facharbeiter in der Automobilindustrie, quasi der Adel der traditionellen Mittelklasse – das ist in den westlichen Ländern mittlerweile eine sehr kleine Gruppe geworden, typisch ist sie nicht mehr.

Wenn es so ist, dass die neue Mittelklasse die alte dominiert, bedeutet das, dass Kultur mächtiger ist als Ökonomie?

Wenn man sich die Differenz zwischen neuer und alter Mittelklasse anschaut, ist es tatsächlich vor allem eine kulturelle Differenz, und zwar auf drei Ebenen. Erstens ihre alltägliche Lebensführung und auch ihre Werte. Die neue Mittelklasse ist offener für die Globalisierung. Man ist mobiler, weniger sesshaft, häufig in den Metropolregionen. Die Wissensarbeit ist häufig projektorientiertes Teamwork. Selbstentfaltung wird wichtiger als bloßer Lebensstandard. Das prägt die Alltagspraxis, die Kindererziehung, die Freizeit etc. Zweitens das kulturelle Kapital, das ist ganz entscheidend. Nicht nur das Einkommen ist eine Ressource, sondern das Bildungskapital. Es ist die wichtigste Differenz zwischen neuer und alter Mittelklasse, dass erstere mehr kulturelles Kapital hat, meist einen Hochschulabschluss. Drittens ist die neue Mittelklasse kulturell einflussreicher. Sie prägt die Werte in den großen Unternehmen, den Medien, in der Politik, im Gesundheitswesen, im Bildungsbereich. Zu ihren Werten gehört unter anderem Flexibilität und Mobilität, Internationalität und lebenslanges Lernen, Emanzipation und Diversität, Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein.

 Ist die neue Mittelklasse nicht tief gespalten? Einerseits gehören Menschen dazu, die tatsächlich statusträchtige Berufe haben. Es gibt aber auch ein akademisches Prekariat, Menschen, die sich von einem befristeten Job zum nächsten hangeln. Viele davon pflegen die kulturellen Statusmerkmale der neuen Mittelklasse besonders heftig, um zu signalisieren, sie gehören dazu. Sie tun so, als seien sie Teil einer Elite, von der sie ökonomisch abgehängt sind.

 Ich würde den Begriff Elite für die neue Mittelklasse nicht verwenden, der ist viel zu eng. Die neue Mittelklasse ist viel größer, sie macht etwa dreißig Prozent der Bevölkerung aus, wenn wir etwa die SINUS-Studie heranziehen. Wie gesagt: Es gibt in jedem Fall eine ökonomische Spreizung innerhalb der neuen Mittelklasse, aber interessanterweise wirkt sie sich auf die Alltagspraxis und die alltäglichen Werte und kulturellen Muster nur bedingt aus. Ich könnte das an einem Beispiel erläutern. Haben wir Zeit?

 Wir haben Zeit.

 In meinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ gibt es ein Kapitel über das Wohnen. Wie wohnt die neue Mittelklasse? Auf der Webseite „Freunde von Freunden“ kann man sich viele typische Wohnungen ansehen. Es sind vornehmlich Menschen aus dem Kreativbereich, die dort ihre Einrichtung zeigen. Interessant ist, alle teilen das gleiche kulturelle Muster der Singularisierung, ganz unabhängig von ihrem sehr unterschiedlichen Einkommen und Vermögen. Überall wird der Leitwert sichtbar, die Wohnung nicht „von der Stange“, sondern als etwas Singuläres zu gestalten, und überall bedient man sich dabei ähnlicher kultureller Mittel: Zentral ist etwa eine Logik der Kombination des Heterogenen: Man kombiniert Elemente verschiedener Herkunft miteinander, ein Mitbringsel von einer Reise, ein altes Möbelstück und daneben das Billy-Regal. Das Interessante ist: Wenn man schaut, wer sind diese Personen, die ihre Einrichtung zeigen, dann findet man Christian Boros, einen extrem wohlhabenden Mann. Gleich daneben sieht man Wohnungen von Künstlern aus Berlin, die ein sehr geringes Einkommen haben. Der eine hat ein teures Bild an der Wand, die andere eines von einem Freund. Da bemerkt man natürlich die unterschiedlichen ökonomischen Ressourcen. Aber die kulturellen Muster und Praktiken, von denen man geleitet ist, sind letztlich die gleichen: Originalität, Kosmopolitismus, Authentizität etc. Mit Hilfe des Geldes, das man hat, werden diese Grundwerte „nur“ anders in die Tat umgesetzt. Hier sieht man, wir stark die Kultur den Lebensstil in der neuen Mittelklasse prägt.

Der Konformismus der Individualisten?

 Das ist natürlich die andere Seite: Man sieht, dass die Singularisierung, welche die neue Mittelklasse prägt, die Tendenz zum Einzigartigen und Individuellen, selbst ein allgemeines Muster ist und von sozialen Praktiken angeleitet werden, die man teilt. Wenn man die Menschen darauf anspricht, sind sie häufig sehr überrascht, weil sie selbst dieses Gemeinsame gar nicht unbedingt wahrnehmen. Auch muss hier keine bewusste Abgrenzung gegen andere stattfinden, die Differenzmarkierung läuft eher untergründig mit.

Bei der Schulwahl für die Kinder ist der Wunsch nach Abgrenzung mitunter sehr deutlich zu spüren. Man ist weltoffen, aber die eigenen Kinder sollen nicht mit den Kiez-Kindern aus der prekären Klasse zusammen sein. 

 Im Extrem kann das so sein. Aber auch hier sind es häufig eher implizite Strategien. Generell ist Bildung und Erziehung ein zentrales Thema für die neue Mittelklasse, und die optimale Förderung der eigenen Kinder ein zentraler Wert und eine zentrale Praxis. Und dann wählt man eben teilweise Schulen, an denen am Ende die Akademikerkinder unter sich bleiben…

Schaden sich die ärmeren Teile der neuen Mittelklasse nicht selbst, indem sie ihre Singularität feiern und dabei vergessen, wie prekär sie eigentlich leben? Das verhindert ja auch eine kollektive Interessenwahrnehmung.

Das könnte man so sehen, und teilweise ändert sich das ja auch. Die Bewegung von Bernie Sanders in den USA wird ja nicht zufällig gerade von jüngeren Akademikern getragen und da spielt die Prekarität in bestimmten akademischen Berufen eine wichtige Rolle. Aber gerade in den USA gilt: Im Durchschnitt ist die ökonomische und kulturelle Differenz zwischen den Akademikern und den Nicht-Akademikern dort gewaltig.

Der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz im Interview (Foto: Ivo Bozic)

In Ihrem Buch „Das Ende der Illusionen“ erklären sie den Zulauf der populistischen Bewegungen und Parteien mit der Statusunsicherheit der alten Mittelklasse. Das leuchtet ein. Aber sind nicht die etablierten Parteien von CDU bis Grüne mit schuld, weil sie ihr Politikangebot zu sehr auf die neue Mittelklasse ausgerichtet haben?

Das eine hängt mit dem anderen zusammen, aber von ‚Schuld‘ würde ich hier nicht sprechen. Das politische Feld hat sich mit der Sozialstruktur gewandelt. Bis in die 1980er-Jahre dominierte das, was ich das sozialkorporatistische Paradigma nenne. Davon gab es eine sozialdemokratische oder eine christdemokratische Variante. Die Gesellschaft wurde von der großen alten Mittelklasse getragen, die auch die Facharbeiterschaft umfasste. Dieses Paradigma erodierte und wurde abgelöst von einer Liberalisierungswelle. Sie kam aus zwei Richtungen. Einerseits die wirtschaftsliberale Richtung, andererseits eine linksliberale. Die beiden haben sich als verfeindet wahrgenommen. Aber gemeinsam trieben sie ein großes Liberalisierungsprojekt voran. Sei es in Richtung von globaler Wettbewerbsfähigkeit, sei es zur Stärkung von individuellen Persönlichkeitsrechten oder Gruppenrechten. Dieser Dynamisierungsliberalismus löste den alten Sozialkorporatismus ab. In anderen westlichen Ländern verlief diese Entwicklung ganz ähnlich. Dieser Paradigmenwechsel wurde sozialstrukturell von der aufsteigenden, auch quantitativ immer größer werdenden neuen Mittelklasse getragen.

Also von der Facharbeiter-SPD zur Lehrer-SPD.

 Zur Akademiker-SPD, ja. Auch die CDU hat sich in vieler Hinsicht liberalisiert, auch sie ist stärker von der neuen Mittelklasse beeinflusst. Was passiert jetzt mit der alten Mittelklasse? Sie ist ohnehin erst mal kleiner geworden. Die typischen Berufe der alten Mittelklasse haben an Bedeutung verloren. Durch die wachsende Akademisierung werden die einfachen oder mittleren Bildungsabschlüsse abgewertet. Es gibt eine neue Stadt-Land-Differenz. Metropolenregionen prosperieren, sie ziehen die Begabten aus den ländlichen Bereichen ab. Kleinstädte fallen zurück, ökonomisch, aber auch in der Selbstwahrnehmung. Menschen fühlen sich deklassiert und entwertet, sowohl kulturell als auch ökonomisch. Es kommen noch andere Faktoren hinzu, zum Beispiel der Wandel der Geschlechterordnung, die Emanzipation der Frauen, die stärkere Erwerbstätigkeit der Frauen. Auch das widerspricht dem klassischen Lebensmodell der alten Mittelklasse. Viele sind enttäuscht, dass die Werte der alten Mittelklasse in den etablierten Parteien nicht mehr besonders stark vertreten sind. Da entsteht eine latente Unzufriedenheit. Ein Teil radikalisiert sich, kämpft gegen Globalisierung und pflegt kulturelle Ressentiments.

Der Machtzuwachs der Frauen in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht ist historisch einmalig. Wie verorten Sie das in Ihrem Koordinatensystem?

 Der durch Liberalisierung gekennzeichnete Strukturwandel der vergangenen Jahrzehnte hat auch die Veränderungen der Geschlechterordnung vorangetrieben. Das geht einher mit dem Wandel von der industriellen zur postindustriellen Ökonomie. Wir sehen einen Bedeutungsverlust der klassischen Industriearbeiterschaft, die sehr stark männlich geprägt war. In den aufstrebenden Wissensberufen sind Frauen hingegen relativ stark vertreten. Frauen sind die Gewinner der Bildungsrevolution, die Akademikerquote ist bei Frauen mittlerweile höher als bei Männern. Aber: auch die neue Serviceklasse, die Tätigkeiten in den einfachen Dienstleistungen ist vorwiegend weiblich, das ist die andere Seite der Postindustrialisierung. Die Spätmoderne ist also eine durchaus zwiespältige Angelegenheit. Für manche Frauen bedeutet die Erwerbstätigkeit einen Gewinn an Freiheit und Status, andere haben keine Wahl, als schlecht bezahlte Dienstleistungsberufe anzunehmen. Die Geschlechterordnung ist auch eine Klassenfrage. In der prekären Klasse bedeutet Frau-sein und Mann-sein etwas anderes als in der neuen Mittelklasse. In der neuen Serviceklasse müssen Frauen nicht selten allein eine Familie durchbringen. Diese Frauen haben eher verloren. Im einem klassischen Arbeiterhaushalt, wo das Einkommen des Mannes für alle reichte, war ihr Alltag womöglich weniger belastend. Aber die Frauen aus der neuen Mittelklasse sind die Statusgewinnerinnen der Spätmoderne – was sie auch zur Zielscheibe von Ressentiments macht.

 Und die Männer?

Im Bereich der alten Mittelklasse und vor allem der prekären Klasse hat ein Verlust an männlichem Status stattgefunden. In der traditionellen Arbeiterklasse spielte ein bestimmtes Männlichkeitsbild eine große Rolle. Ein Mann ernährte eine Familie. Männlichkeit definierte sich durch Körperkraft und die Fähigkeit zum Zupacken. Das hat an Wert verloren. Dieser Statusverlust schlägt bei manchen Männern in Frustration und politische Radikalisierung um.

Bedeutet der männliche Statusverlust in der alten Mittelklasse und der prekären Klasse, dass die populistischen Parteien in Zukunft noch mehr Zulauf haben werden?

 Solche Prognosen sind immer schwierig. Aber grundsätzlich ist die Geschlechterfrage wichtig, um den Aufstieg des Populismus zu begreifen. Da geht es häufig auch um gekränkte und revitalisierte Männlichkeit, man sieht es ja teilweise auch an ihren ‚Anführern‘ von Trump bis Salvini.

 Wie bedeutsam ist die prekäre Klasse für die politischen Bewegungen?  Die Marschierer von „Pegida“ hielt man zunächst für gesellschaftlich Abgehängte. Dann kamen die Umfragen, und man sah: Das ist solide Mittelschicht, nach Bildung, Einkommen und Beruf.

 Das ist richtig, aber das heißt nicht, dass die prekäre Klasse keine Rolle spielt. In Frankreich kann man das sehr gut sehen. Die Wähler von Marine Le Pens Partei „Rassemblement National“ stammen im Norden ganz stark aus der prekären Klasse. Im Süden sind es eher die aus der alten Mittelklasse. Beide Gruppen tragen zu ihrem Erfolg bei.

Haben die bürgerlichen Parteien Entwicklungen, die nicht ins eigene Weltbild passen, zu lange ignoriert oder schöngeredet?

Gegenwärtig kann man beobachten, dass sich in den etablierten Parteien die Problemwahrnehmung tatsächlich verändert. Es ist heute nicht mehr wie vor zehn, fünfzehn Jahren, als das liberale und globalisierungsfreundliche Paradigma unangefochten galt. Zunächst hat es im Zuge der Finanzkrise Kritik am Neoliberalismus gegeben. Die Frage nach der Notwendigkeit einer staatlichen Infrastruktur, zum Beispiel in den Bereichen Gesundheit und Bildung, nach einer Milderung sozialer Ungleichheit sowie einer Besserstellung von Tätigkeiten im Niedriglohnsektor, zum Beispiel im Pflegebereich, wird aufgeworfen. Auch für das Verhältnis zwischen Stadt und Land gibt es teilweise eine neue Sensibilität.

Sie betonen die Bedeutung der „Wissensökonomie“ für die Spätmoderne als die beherrschende Struktur, mit vielen neuen Berufen, auch sehr gut bezahlten Berufen, etwa im IT-Bereich. Kann diese neue Wissensökonomie die alte güterproduzierende Industrie wirklich ersetzen? Kann sie annähernd so viele Menschen in die Arbeitswelt integrieren, annährend so viel Wohlstand inklusive sozialer Sicherungssysteme generieren? Anders gefragt: Geht es von nun an für große Teile der Gesellschaft bergab?

Für bestimmte Gruppen geht es bergab, für andere nicht. Wir erleben das, was ich polarisierten Postindustrialismus nenne. Parallel zum Niedergang des industriellen Sektors gibt es den Aufstieg zweier konträrer wirtschaftlicher Segmente: auf der einen Seite eben die Wissensarbeit der Hochqualifizierten, auf der anderen Seite aber auch die Gruppe derjenigen, die einfache Service-Tätigkeiten ausüben. Der Anteil der industriellen Tätigkeiten ist dagegen immer kleiner geworden. In den USA stellt die Gruppe der klassischen Industriebeschäftigen nur noch zehn Prozent der Erwerbstätigen, in Deutschland sind es etwas über 20 Prozent – es waren aber einmal 50 Prozent. Hochqualifizierte profitieren also von der Postindustrialisierung, sie steigen zumindest ökonomisch nicht ab, im Lebensgefühl steigen sie eher auf, das ist das obere Drittel. Auf der anderen Seite steht aber die „Service Class“, die in einer deklassierten Position ist. Im historischen Vergleich könnte man sagen, dass viele, deren Eltern in der alten Mittelklasse waren, in die neue Mittelklasse übergewechselt sind – aber manche andere sind eben in die prekäre Klasse abgestiegen. Mit harter körperlicher Art konnte man in der industriellen Moderne eine respektable Position erreichen – in der Spätmoderne nicht mehr. Die ‚alte Mitte‘ gibt es weiterhin, aber teilweise befürchtet sie, auf eine soziale Rutschbahn zu geraten. Die Transformation von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft bedeutet damit zwar für eine bestimmte Gruppe – die Trägerin der berühmten ‚Wissensgesellschaft‘ – Fortschritt und Aufstieg, für größere Teile der Gesellschaft jedoch Verluste oder Verlustängste. Das darf man nicht übersehen.

Sie schreiben von einer „Krise des Allgemeinen“. Steuern wir auf eine segregierte Gesellschaft zu, in der sich die kulturellen Milieus wie feindliche Stämme gegenüberstehen?

Eine wachsende kulturelle Heterogenität muss keine Feindseligkeit bedeuten. Die Frage ist aber, ob es noch eine zweite Ebene gibt, wo allgemeine Strukturen existieren, die alle teilen und gutheißen.

Wir alle machen hin und wieder diese Erfahrung, dass man Menschen kennenlernt und sich fragt: Leben die wirklich im selben Land wie ich?

 Das ist die Erfahrung der Moderne schlechthin. Die moderne Gesellschaft ist eben keine Dorfgemeinschaft. Differenzierungsprozesse, vor allem in den Großstädten, hat Georg Simmel schon vor über 100 Jahren thematisiert. Hinter Heterogenität und Differenz kann man nicht zurück – das wäre eine gefährliche Nostalgie, die eigentlich aus der modernen Gesellschaft aussteigen will. Trotzdem ist die Suche nach dem Allgemeinen ein wichtiges Thema. Das ist ja das Thema eines anderen Soziologieklassikers, nämlich Emile Durkheim. Der fragte auch vor über 100 Jahren: wie kann eine Gesellschaft hochdifferenziert und individualisiert sein und wie kann es in ihr gleichzeitig kulturelle Integration geben? Ich habe da kein Patentrezept, aber es gibt interessante Beispiele, wie es gelingen kann, gemeinsame Grundwerte zu kultivieren. So gibt es Schulen, die gut funktionieren, obwohl sie sehr heterogene Milieus zu bedienen haben. Entscheidend ist, dass Schule von Lehrern und Schülern als gemeinsamer Bildungs- und Lebensraum verstanden wird. Als ein Raum, wo gemeinsame Regeln festgelegt werden und man sie in der alltäglichen Praxis lebt. Das sind meist auch Schulen, die mit den Eltern eng kooperieren. Oder mit dem Stadtteil. Nehmen Sie die Berliner Rütli-Schule, die sich von einem pädagogischen Desaster zum Vorzeigeprojekt entwickelt hat. Ich würde da von einem „doing generality“ sprechen: Das Allgemeine ist nicht einfach da. Es muss erarbeitet werden, in banalen, alltäglichen Praktiken.

 Ihr Buch „Das Ende der Illusionen“ endet damit, dass Sie einen neuen „einbettenden Liberalismus“ erblicken, in dem das Allgemeine wieder an Bedeutung gewinnt. Das sei ein Paradigmenwechsel nach vier Jahrzehnten eines „apertistischen Liberalismus“, der das Individuum ins Zentrum stellte und gleichzeitig Grenzen niederriss. Könnte Covid-19 diesen „einbettenden Liberalismus“ beschleunigen? Begrenzung und Gemeinwohl sind in diesen Tagen wieder zu zentralen Kategorien geworden.

 Von den 1980er bis zu den 2010er-Jahren war in allen westlichen Gesellschaften im politischen Feld ein Dynamisierungsliberalismus dominant, der auf Entgrenzung und Deregulierung gesetzt hat: neoliberal eine Deregulierung der Ökonomie, linksliberal eine ‚Deregulierung‘ der Kultur und eine Freisetzung der Individuen. Der Dynamisierungsliberalismus war mit der Globalisierung verbunden und hat den sozialen Wandel angeheizt. Tatsächlich sind in den letzten zehn Jahren, vor allem nach der Finanzkrise, aber die Nachteile und unerwünschten Effekte eines solchen ‚öffnenden‘ Liberalismus deutlich geworden. Die Debatte, inwiefern er sich transformieren müsste – auch um eine überzeugende Alternative zu autoritären Systemen zu liefern -, und zwar indem er stärker regulierend und ordnungsbildend wirkt, ist in den letzten Jahren dringlich geworden. Das betrifft die sozial-ökonomische Frage einer Politik, für die die staatliche Sicherung einer Infrastruktur im weitesten Sinne Priorität hat, aber auch eine Politik und Zivilgesellschaft, für die das aktive Leben kultureller Grundwerte, auch der gegenseitigen Verpflichtung der Individuen, in der Gesellschaft wichtig ist. Also eine Einbettung der gesellschaftlichen Dynamik in soziale Strukturen. Die Herausforderung der Covid-19-Epidemie könnte tatsächlich einen weiteren Impuls zu einer solchen Transformation der Politik liefern. Denn nun wird sehr deutlich, dass es staatlicher Vorsorge, einer funktionierenden staatlichen Infrastruktur, vor allem im Bereich der Gesundheitsversorgung, aber auch der allgemeinen Krisenreaktion bedarf, um effektives Risikomanagement zu betreiben. Und schmerzhaft wird deutlich, wo die Politik diese Vorsorge vernachlässigt hat. In der Krise sehen wir aber auch: die Krisenbewältigung ist auf kooperierende Bürger angewiesen, die die Prävention der kollektiven Gefährdung vor ihre individuellen Interessen stellen. Und diese Kultur der gegenseitigen Rücksichtnahme scheint sich überraschend gut zu etablieren. Darauf wird man nach der Krise möglicherweise aufbauen können – das wäre jedenfalls eine optimistische Deutung.

 Wir erleben aber auch, dass sich Menschen immer stärker über Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Herkunft usw. definieren und die Welt entlang dieser Kategorien deuten. Ist das ein Reflex gegen den bösen Liberalismus, der alle und alles gleichmacht? Diese identitären Muster gibt es ja rechts wie links.

Das ist nicht so einfach einzuordnen. Die frühen Ausformungen der Identitätspolitik, in den 70er- und 80er-Jahren etwa der Regionalismus, waren zunächst Teil eines Linksliberalismus, bei dem es darum ging, benachteiligte Gruppen zu stärken und ein entsprechendes Selbstbewusstsein zu fördern. Teilweise hat das zu einer Integration der bisher Benachteiligten in die Mehrheitsgesellschaft geführt. Teilweise gibt es aber auch Phänomene wie die Abschottung von Neogemeinschaften nach außen entlang von Identitätsmerkmalen.

Sie schreiben von der „großen Fortschrittserzählung“ des Globalismus, auf die wir uns geeinigt hätten in den letzten Jahrzehnten. Sie beschreiben die neue Mittelklasse, die als wichtigster Träger dieser großen Fortschrittserzählung agiere, als fortschrittsaffin und globalistisch. Aber gerade diese neue Mittelklasse steht doch seit Ende der 70er-Jahre auch für die Gegenströmung, für Anti-Globalisierung, Anti-Freihandel, gegen technischen Fortschritt. Die romantische Tradition mit ihrer Technikskepsis und ihrem Fortschrittspessimismus lebt doch gerade in dieser aufstrebenden Mittelklasse fort.

Es gibt in jedem Fall ein romantisches Erbe in der Moderne, das sich gerade in der neuen Mittelklasse findet. Klassischerweise waren das zwei Gegenspieler: hier die Aufklärung mit ihrem Fortschrittsdenken, dort die Romantik mit ihrer Fortschrittsskepsis. Die Romantik hat natürlich noch ganz andere Ideen stark gemacht: Individualität, Kreativität, Authentizität. Die neue Mittelklasse, die sich seit den 1970er Jahren gebildet hat, war zunächst auch durch die Gegen- und Alternativkulturen dieser Zeit beeinflusst, die sehr stark vom romantischen Erbe beeinflusst waren. Zunächst hat es da deutliche Gegnerschaften gegeben, mittlerweile aber eher Synthesen. Ein Beispiel wäre etwa der Gegensatz zwischen Schulmedizin und Alternativmedizin, die in der neuen Mittelklasse ausgetragen wurde – mittlerweile gibt es eher Synthesen einer ‚ganzheitlicher‘ gewordenen Schulmedizin. In der Ökologiedebatte ist es ähnlich: In den 70er-Jahren, etwa mit den „Grenzen des Wachstums“, entwickelte sich ökologische Kritik an Wachstums- und Fortschrittsmodellen. Diese ökologische Skepsis ist später in den Mainstream eingesickert und hat zu einer ökologischen Modernisierung der Industriegesellschaft geführt.

 Der Mensch in der Spätmoderne hat es schwer. Sie beschreiben ihn in Ihrem Buch „Das Ende der Illusionen“ als niemals rastendes Individuum, das sich ständig beweisen muss, dass es etwas ganz Besonderes ist. Das zu Erschöpfungskrankheiten neigt und keine Instrumente hat, um Erfahrungen des Scheiterns zu verarbeiten. Sollten wir wieder schicksalsergebener werden? Wir ignorieren zum Beispiel weitgehend, welche große Rolle der Zufall im Leben spielt. Ich kann „alles richtig machen“ und dennoch Misserfolge erleben.

Da muss man die Ebene der Gesellschaft von der Ebene des Individuums unterscheiden. Wenn man den Gestaltbarkeitsglauben auf der gesellschaftlichen Ebene aufgeben würde, wären wir nicht mehr in der Moderne. Wir sehen es ja gegenwärtig in der Corona-Krise: Schicksalsergeben hieße, die Infektion einfach laufen zu lassen. Aber die moderne Gesellschaft begnügt sich nicht damit, sie versucht den Prozess im Sinne eines Risikomanagements zu beeinflussen.

Wie sieht es für den Einzelnen aus?

 Das Interessante ist, dass der Gestaltbarkeitsglaube sehr deutlich auf der Ebene der Individuen angekommen ist. Man könnte sogar sagen: Der Gestaltbarkeitsglaube der Individuen ist in der Spätmoderne eine Art Kompensation dafür, dass auf der Ebene der Gesellschaft dieser Glaube an die Steuerbarkeit Risse bekommen hat. Die Spätmoderne kultiviert in einer Weise das Ideal eines optimierten, entfalteten Lebens für jeden und jede, wie es wohl in keiner Gesellschaft zuvor der Fall war. Aber dieses Lebensmodell bringt eben auch systematisch entsprechende Enttäuschungen hervor. Das hat verschiedene Ursachen: In vielen Bereichen – Beruf, Partnerschaft, Wohnung, Bildung – gibt es eine Wettbewerbssituation mit Gewinnern und Verlierern. Technologien wie die Sozialen Medien fungieren fast wie eine Anleitung zum Unglücklichsein: Wenn ich mich ständig vergleiche, ist das eine Enttäuschungsmühle. Und natürlich gibt es Ereignisse, die sich nicht beeinflussen lassen. Da ist man im Bereich des Unkontrollierbaren oder nicht Gestaltbaren oder des „Unverfügbaren“, ein Begriff, den der Soziologe Hartmut Rosa in letzter Zeit stark gemacht hat. Da stößt der moderne Gestaltungsglaube an eine Grenze. Da fehlt es an kulturellen Instrumenten, um mit Misserfolgen, negativen Zufällen und Unglück umzugehen. Wenn jemand Krebs hat, wird es als „Kampf gegen den Krebs“ interpretiert, den man wiederum gewinnen oder verlieren kann – die Begrifflichkeit ist verräterisch.

 Früher glaubte man ans Schicksal oder an göttlichen Willen.

 Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hat die Religion vielen Instrumente an die Hand gegeben, um mit dem, was sich der Kontrolle entzieht, sinnvoll umzugehen. Da war etwas in diesem Leben halt nicht vorgesehen oder ist über einen hereingebrochen. Man hat sich damit abgefunden und vielleicht sogar einen Sinn gesehen. Aber man kann die Religion natürlich nicht künstlich zurückholen. Wir haben nun aber kaum kulturelle Instrumente für die Verarbeitung des Scheiterns, und es ist ein Problem, dass wir die Verantwortung, die „Schuld“ immer im Individuum sehen.

Sie schreiben, die neue Mittelklasse will Individualität und Selbstverwirklichung. Darüber haben wir gerade gesprochen. Sie ist aber keine Wiedergängerin der Hippies, sondern will auch wirtschaftlichen Erfolg und Status. Ist sie dadurch eine besonders gestresste Klasse?

Diese Doppelstruktur ist für das Lebensideal der neuen Mittelklasse tatsächlich charakteristisch und darin ist sie ein gesellschaftlicher Schrittmacher. Aber: Selbstverwirklichung und gleichzeitig sozialen Status und sozialen Erfolg haben zu wollen, ist anspruchsvoll. Im positiven Fall kann sich ein hohes Maß an Befriedigung ergeben, es wächst aber eben auch die Gefahr des Scheiterns.

 Also ist es eine Last, ein Bobo zu sein?

 Der Begriff Bohemian Bourgeois, den David Brooks geprägt hat, bezeichnet ja genau diese Doppelstruktur aus bürgerlichem Erfolgsstreben und romantischem Selbstverwirklichungsstreben. Man kann das ironisieren und meinen, es seien Luxusprobleme. Im Vergleich etwa zu den Problemen der neuen Unterklasse sind sie es auch. Aber es ist wichtig zu sehen, dass auch ein Lebensstil, der die basalen Mangelprobleme gelöst hat, auf höherer Ebene neue innere Widersprüche mit sich bringt. Für die Individuen sind sie sehr real, und sie sind kennzeichnend für die Kultur der Gegenwart.

Zuerst erschienen auf salonkolumnisten.com