Denkmal zur Erinnerung an den 2. Juni 1967* (Foto: M. Miersch)

Von der APO** zur AfD

Von Von Ellen Daniel und Michael Miersch

Auffällig viele Wortführer der 68er-Bewegung gesellten sich im Alter zur „Neuen Rechten“. Der Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar erforscht die Protestbewegung und den linken Terrorismus der 60er- und 70er-Jahre seit Jahrzehnten. Ellen Daniel und Michael Miersch wollten von ihm wissen, warum linke Rebellen von damals heute nationalistisch ticken. Was bewegt ältere Herrschaften, ein zweites Mal radikal zu werden?

Frage: Herr Dr. Kraushaar, Sie sind der Historiker dessen, was mit der Jahreszahl 1968 etikettiert wird.*** Deshalb hoffen wir bei Ihnen Erklärungen zu finden für eine befremdende Alterserscheinung. Manche unserer linken und liberalen Freunde wurden jenseits der 60 nationalistisch und fremdenfeindlich. Kennen Sie das?

Ja, durchaus. Ich war gut bekannt mit Frank Böckelmann. Der Münchner war einmal der Kopf der „Subversiven Aktion“. Das war die Keimzelle der antiautoritären Bewegung. Er zog 2010 in seine Geburtsstadt Dresden zurück und schloss sich dort der „Pegida“-Bewegung an. Böckelmann ist außerordentlich gebildet, sehr theorie-affin und stark beeinflusst vom französischen Poststrukturalismus.

Obwohl Sie ihn gut kannten, haben Sie nichts bemerkt?

Mich hatte schon Jahre zuvor irritiert, dass seine Gedanken immer mehr um den Konservatismus und die Nation kreisten. Aber dass er sich dann diesen Dummköpfen anschloss, hat mich doch sehr überrascht. Böckelmann ist nur ein Beispiel dafür, dass ein führender Kopf dessen, was man heute als „die 68er“ bezeichnet, nach weit rechts driften konnte. Er ist keineswegs der Einzige.

Etliche aus der ersten Reihe der damaligen Neuen Linken nahmen einen ähnlichen Weg: Horst Mahler, Günter Maschke, Reinhold Oberlercher, Bernd Rabehl, Klaus Rainer Röhl. Der verstorbene Rolf Peter Sieferle gehört in diese Reihe. Und der ebenfalls verstorbene Dieter Kunzelmann. Der definierte sich im Gegensatz zu den anderen selbst zwar nicht als Neurechten. Er war jedoch Antisemit. Auch etliche, die damals mit auf die Straße gingen, ohne eine herausragende Rolle zu spielen, nahmen diesen Weg. Zum Beispiel Wolfgang Gedeon, der für die AfD im Stuttgarter Landtag saß und wegen Antisemitismus ausgeschlossen wurde. Sind das alles Sonderfälle? Oder gibt es Gemeinsamkeiten?

Ich bin mit Verallgemeinerungen grundsätzlich sehr zurückhaltend. Zwei Fragen scheinen mir in diesem Zusammenhang wichtig: Wann sind diese Männer sozusagen nach rechts gekippt? Und welchen biographischen Hintergrund hatten sie? Der entscheidende Zeitpunkt für ihre Rechtswende war bei den meisten das Jahr 1998. Als SPD und Grüne mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer an der Spitze die Bundestagswahl gewonnen hatten, hieß es in vielen Medien: Jetzt sind die 68er an der Macht. Diese Sichtweise war im Ausland noch viel zugespitzter, besonders in Frankreich. Bereits 1998 haben sich die meisten von denen, die Sie aufgezählt haben, öffentlich zum Rechtskonservatismus oder Rechtsextremismus bekannt.

Die Linken von 68 kommen nach 30 Jahren an die Macht, worauf ihre einstigen Wortführer in die Gegenrichtung abdrehen… 

So könnte man es verkürzt und zugespitzt sagen. Wenn man sich mit der Geschichte der Neuen Linken – wie sie ja ursprünglich genannt wurde – befasst, kennt man diese Namen. Sie alle waren damals prominente Köpfe, zumeist Leute aus der ersten Reihe.

Wolfgang Kraushaar bei einer Konferenz über die chinesische Kulturrevolution in Shanghai     Foto: Privat

Der bekannteste, krasseste und verrückteste Fall eines 68ers, der zum Nazi wurde, ist Horst Mahler. Der ehemalige Anwalt der Linken, der zusammen mit dem späteren Innenminister Otto Schily protestierende Studenten verteidigte und 1970 die RAF gründete. Was machte Mahler 1998?

Drei Tage nach dem rot-grünen Wahlsieg erschien in der „Süddeutschen Zeitung“ eine ganze Seite aus der Feder von Horst Mahler, unter dem Titel „Geheimagent des Weltgeistes.“ Es war ein offen rechtsradikaler Artikel.

In der „Süddeutschen“?

Offenbar ist in der Redaktion niemand auf die Idee gekommen, diesen Artikel genauer zu lesen. Mit dem „Geheimagenten des Weltgeistes“ war übrigens Gerhard Schröder gemeint.

War Mahler nicht schon vorher durch seltsame Reden aufgefallen?

Ja, aber das hatten nur wenige mitbekommen. Das erste Anzeichen bestand darin, dass er 1997 eine Laudatio zum Geburtstag von Günter Rohrmoser hielt, dem intellektuellen Chefberater von Franz Josef Strauß und Hans Filbinger. Rohrmoser war aber auch Hegelianer. Das verband ihn mit Mahler.

Was trieb Mahler 1998 um?

Ich vermute, dass Neid dabei eine Rolle gespielt hat. Neid darauf, dass so jemand wie Schröder plötzlich Bundeskanzler hat werden können. Schröder war wie er Rechtsanwalt. Als Mahler aus dem Gefängnis kam, wo er zehn Jahre als Terrorist gesessen hatte, erstritt ihm Schröder vor Gericht seine Wiederzulassung als Anwalt. Die beiden waren in dieser Zeit eng miteinander befreundet. Mit seinem Artikel in der „Süddeutschen“ hat Mahler eine Art Angebot unterbreitet, strategischer Vordenker für die neue Regierung zu werden. Mahler warnte Schröder davor, den europäischen Weg Helmut Kohls fortzusetzen und appellierte nun an seinen Kumpel, sich auf die deutsche Nation zu besinnen.

Ein Bekannter von uns sagte einmal den zynischen Satz: „Gut, dass Dutschke so früh gestorben ist, sonst wäre der auch noch in der AfD gelandet.“ 

Das glaube ich nicht. Richtig ist jedoch, dass Dutschke immer ein überzeugter Anhänger der deutschen Nation war. Das scheint dem zu widersprechen, wodurch er bekannt geworden ist. Man nahm ihn vor allem als Internationalisten wahr, der für die Befreiung der Dritten Welt kämpfte. Das muss aber kein Widerspruch sein. Schon seine frühen Texte drehen sich um die Nation, besonders im Hinblick auf eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Doch er wusste, dass seine Genossen so etwas nicht hören wollten und schrieb einige dieser Texte deshalb lieber unter Pseudonym. Auch später, Mitte der 70er-Jahre, nachdem er sich von den schweren Folgen des Attentats erholt hatte, schrieb er immer wieder Artikel zur Wiedervereinigung und zur deutschen Nation. Er wollte ein demokratisch-sozialistisches Gesamtdeutschland.

Ein Zweites, das bei Dutschke auffällt, ist sein Schweigen zu den Verbrechen des Nationalsozialismus. Als er einmal nach dem Warum gefragt wurde, antwortete er, er habe als Christ aus Scham einfach nicht darüber sprechen können. Dazu muss man wissen, dass Dutschke ein gläubiger Protestant war. Eines ist jedoch sicher: Dutschke war völlig frei von Anti-Zionismus und Antisemitismus. Er hat 1967 im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) die Verabschiedung einer anti-israelischen Resolution verhindert, in der behauptet wurde, Israel sei ein Vorposten des US-Imperialismus, den man bekämpfen müsse. Ab 1969 setzte sich diese Position jedoch durch. Für mache war es eine willkommene Gelegenheit, sich nicht mehr mit den deutschen Verbrechen befassen zu müssen und stattdessen lieber die Unterdrückung der Palästinenser anzuprangern. Nach dem Motto: Die Juden sind ja selbst Täter.

Dennoch hat sich in Deutschland die Sichtweise durchgesetzt, der Bruch mit der vom Nationalsozialismus kontaminierten Elterngeneration sei Ursache und Hauptmotiv der Studentenrebellion gewesen. Manche, die dabei waren, widersprechen und sagen: Es ging vor allem um den Vietnamkrieg. Für die NS-Verbrechen hätten sich nur wenige interessiert. 

Ja und nein. Es gab eine Phase von 1961 bis 1965, also vor den bekannten Straßenprotesten, die später das Bild der Studentenbewegung prägten. Da war die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Verbrechen das beherrschende Thema der späteren SDS-Aktivisten. Zahlreiche Arbeitsgruppen und Seminare drehten sich darum. Danach befasste man sich mehr mit der Gegenwart, und das Interesse an den deutschen Verbrechen wurde geringer. Jetzt stand die Frage im Mittelpunkt, wie stark der Nationalsozialismus im westdeutschen Staat noch lebendig sei. So wurde etwa die NSDAP-Vergangenheit des Bundeskanzlers Kiesinger ein großes Thema. 1968 konzentrierte sich dann alles auf die Notstandgesetzgebung. Sie wurde als Wegbereitung in eine neue Diktatur interpretiert. Die Parole lautete: „Kein neues 33!“ In der linken Terminologie von damals sprach man aber immer nur vom Faschismus. Das Spezifische des deutschen Nationalsozialismus, der fanatische Antisemitismus, der zum Völkermord an den europäischen Juden führte, wurde verdrängt.

Nochmals zurück zu Horst Mahler. Sie haben im Rahmen Ihrer Forschung im Jahr 2012 ausführlich mit ihm gesprochen. Damals saß er wegen seiner Nazi-Aktivitäten wieder im Gefängnis. Welchen Eindruck machte er auf Sie?

Einerseits ist er ein Mann, mit dem Sie rational über vieles reden können. Gleichzeitig aber ein wahnhafter Antisemit. Seine Absicht bei diesem Gespräch war, mir deutlich zu machen, dass er nun endlich in der Lage sei, seinen Lebenslauf kohärent zu interpretieren. Sein Trauma war der Selbstmord des Vaters, der sich 1949 aus Gram über das Scheitern Hitlers umbrachte. Sein Vater wollte auch seine drei Söhne mit in den Tod nehmen und gab ihnen deshalb Gift, unter dem Vorwand, es handle sich dabei um ein Anti-Grippe-Medikament. Der ältere Bruder durchschaute diese Lüge, nahm die Tabletten nicht und gab sie auch seinen jüngeren Brüdern nicht.

Und wie ordnete Mahler seine Zeit als Wortführer der Linken im Westberlin der 60er-Jahre ein?

Er versucht seine Konversion zum Nationalsozialisten im Nachhinein als folgerichtig darzustellen. Im Berliner SDS, dem er angehörte, habe man nationalistisch gedacht, behauptete er. Seine damaligen Genossen bestreiten dies heftig. Der Frankfurter SDS dagegen sei völlig „verjudet“ gewesen. Damit meinte er den Einfluss der Kritischen Theoretiker Horkheimer und Adorno. Er wolle, so sagte er, sein Denken nun „entjuden“.

Mahler hat Parteien und Organisationen gewechselt, wie andere ihre Hemden. RAF und NPD waren nur die auffälligsten Pole seiner politischen Biographie. Aber hatten nicht allen Stationen etwas gemeinsam: die Verachtung der liberalen Demokratie, des Pluralismus und des politischen Kompromisses? 

Da treffen Sie einen ganz zentralen Punkt. Es gibt durchaus eine Kontinuität in seinem Werdegang. Drei Kernelemente seines Denkens sind durch alle Wechsel bestehen geblieben: Erstens sein Antiliberalismus. Zweitens sein Hass auf Amerika. Er lehnte die amerikanische Kultur zutiefst ab und legte zugleich eine starke Affinität zu Russland an den Tag – zunächst zur Sowjetunion, später zum Putinismus. Das dritte Kontinuitätselement ist seine Ablehnung der westlichen Demokratie, insbesondere des Parlamentarismus.

Sie erwähnten vorhin den biographischen Hintergrund als verbindenden Faktor der ex-linken Neurechten…

Mahler und die anderen nationalistischen Ex-Linken, von denen wir sprechen, haben neben dem Zeitpunkt ihrer Umkehr noch eine zweite Gemeinsamkeit. Nicht alle, aber auffällig viele stammen – wie Dutschke – aus der DDR. Bernd Rabehl hat in einem Interview einmal gesagt, die Frage nach der Nation sei für ihn immer selbstverständlich gewesen, da er in der DDR aufgewachsen ist. Reinhold Oberlercher, den „Der Spiegel“ 1967 den „Rudi Dutschke Hamburgs“ nannte, hatte als Jugendlicher in der DDR im Gefängnis gesessen. Heute ist er Reichsbürger. Böckelmanns Dresdener Herkunft erwähnte ich schon. Auch Rainer Langhans könnte man hier nennen.

Langhans? Der gibt doch eher den esoterischen Schwabinger.

Er verfügt über eine sehr enge Verbindung zu Mahler. Gelegentlich sagt er auf seine diffuse Art seltsame Dinge wie den angeblichen „Hitler in uns“ und fragt, ob der Nationalsozialismus nicht doch „eine Art Befreiung“ gewesen sei.

Was prägte Jugendliche in der DDR so nachhaltig, dass sie Jahrzehnte später als ältere Männer ihre linke Gesinnung ablegten und zu Rechtsextremisten wurden? 

Die staatliche Erziehung trichterte den Jugendlichen fortwährend ein, dass die DDR das bessere Deutschland sei, die „gute“ Nation. Das SED- Zentralorgan hieß nicht zufällig „Neues Deutschland“, die Armee „Nationale Volksarmee“ und die Blockparteien traten als „Nationale Front“ zur Wahl an. Welch eine Terminologie! Der Kult um die deutsche Klassik, die Verehrung eines glühenden Nationalisten wie Ernst Moritz Arndt. Man stützte sich kommunistisch ummäntelt auf eine extrem nationalistische Ideologie. Das hat diese Jugendlichen geprägt. Dutschke lehnte den Wehrdienst in der DDR ab, nicht etwa aus pazifistischen Gründen, sondern weil er nicht auf seine deutschen Brüder schießen wollte.

Neben den westlichen Ex-Linken gibt es noch eine andere ehemals emanzipatorische Bewegung, aus der einige Prominente rechtsnational und fremdenfeindlich geworden sind: die DDR-Bürgerrechtler. Gibt es da eine Gemeinsamkeit? 

Es überrascht nicht, dass vor allem die Montagsdemonstrationen, die ja das Kernereignis von 1989 waren, heute von „Pegida“ und AfD zu vereinnahmen versucht werden. Natürlich stellt man sich da gern in eine revolutionäre Tradition, die angeblich auch einen genuin nationalen Kern hatte. Letzteres trifft aber keineswegs auf alle relevanten Kräfte der Gemengelage von 1989 zu. Denken Sie an Kirchengruppen oder an die Bürgerrechtler, die eher eine Reform des Sozialismus als eine Wiedervereinigung im Sinn hatten.

Man darf auch nicht vergessen, dass wir Mitte der 90er Jahre eine furchtbare Welle an Fremdenfeindlichkeit erlebt haben, allem voran die Brandanschläge auf Asylunterkünfte in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Diese Welle hatte ihren Ursprung in den neuen Bundesländern und war dort immer stärker ausgeprägt als in den alten Bundesländern, wo es mit Mölln, Solingen und Lübeck aber auch zu Anschlägen kam. Aus Unterlagen der Gauck-Behörde weiß man heute, dass es vor 1989 Abertausende von fremdenfeindlichen, rassistischen und rechtsradikalen Übergriffen, zum Teil auch Anschlägen in der DDR gegeben hat. In diesem Zusammenhang spielte Hoyerswerda übrigens schon vor 1989 eine unrühmliche Rolle.

Heute ist bekannt, dass die DDR eine nationalistische Jugendkultur nicht nur duldete, sondern auch gegen Bürgerrechtler oder Punks instrumentalisierte.

So ist es. Die Stasi hat diese Vorgänge mit dem Etikett „Randale und Vandalismus“ kaschiert. Man hat versucht, dieser Gewalt damit einen unpolitischen Charakter zuzuschreiben. Schließlich war die DDR ja ein „antifaschistischer Staat“, in dem es so etwas nicht geben durfte. Keinesfalls durften die Wurzeln innerhalb der eigenen Gesellschaft liegen.

Ein anderes Thema mit Bezug zu Herkunft: Kann Identitätspolitik, die die Hautfarbe oder die Religion zum entscheidenden Faktor menschlicher Biographien macht, links im Sinne von emanzipatorisch sein? Momentan haben wir es mit merkwürdigen Phänomenen zu tun. Wir denken zum Beispiel an eine neue Figur bei den Muppets, die als „person of color“ eingeführt wurde und einen langen Monolog über die Bedeutung ihrer Hautfarbe hielt. 

Wenn man das als links verstanden wissen will, ist es zumindest ein Zerfallsphänomen. Es wäre aber unlauter, Identitätspolitik als per se rechts einzuordnen. Bekannt ist, dass der Identitätsbegriff schon Mitte der 70er-Jahre in den Sozialwissenschaften rauf- und runterdekliniert worden ist. Prägend war ein Emigrant, der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik H. Erikson. Dessen Identitätsmodell, das er anhand von Migranten-Biographien in den USA entwickelt hatte, wurde in den 70ern marxistisch überwölbt, indem man von Individuen ausging, die sich selbst entfremdet und als bloßes Konsumobjekt den Marktmechanismen des Kapitalismus unterworfen waren. Diese Kritik spielte in den 70ern und frühen 80ern eine erhebliche Rolle, als Ex-68er nach Indien gingen und sich plötzlich als „Sannyasins“ verstanden. Man war nicht mehr marxistisch, sondern subjektivistisch, wofür es vorher in den linken Gruppierungen in dieser Einseitigkeit kaum einen Raum gegeben hätte.

Also nichts Neues unter der Sonne? 

Doch, durchaus. Neu und entscheidend ist, dass man heute jeder partikularen Identität, die man meint, unterstützen zu müssen, einen Opferstatus zurechnet. Der Soziologe Andreas Reckwitz (hier im Interview mit Ellen Daniel und Michael Miersch) spricht nicht zu Unrecht von einer „Gesellschaft der Singularitäten“. Wir leben jedenfalls in einer immer stärker atomisierten Gesellschaft, in der ein Bezug auf kollektive Erfahrungs- und Überzeugungsmuster immer schwieriger wird. Also versucht man im Feld der Identitätspolitik gewissermaßen Opfergruppen zu bilden und so Dynamik und Voraussetzungen für gesellschaftliche Kampagnen zu erzeugen. Ich halte das für einen Irrweg.

 An den Universitäten und in Teilen der Publizistik ist dieses Denken doch schon jetzt weit verbreitet. Nicht nur die identitäre Linke, auch die Neue Rechte schwimmt auf dieser Welle. Letztere betrachtet Deutschland als Opfer einer verfehlten Einwanderungspolitik oder – der Klassiker– als Opfer des an der US-Ostküste operierenden „Finanzjudentums“.

Das ist richtig, und in diesen Milieus entfaltet das auch eine gewisse Dynamik. Aber wir leben in einer durch und durch neoliberalen Gesellschaft, die sich weder auf Gemeinschaft noch auf Gesellschaft beruft, statt dessen stur dem Diktat der Ökonomie folgt und sich über Partikular-Identitäten definiert. Die Studierenden zum Beispiel sind im Anschluss an die Bologna-Reformen nur noch auf ein möglichst effizientes Studium aus. Bildung im allgemeinen lässt sich kaum vermarkten und gilt deshalb als out. Mit einem Studium Generale, das wir noch im Kopf hatten, haben die nichts mehr am Hut.

Also vom „Ich zum Wir“ und wieder zurück? Das wäre das Ende des Politischen. Daran zu glauben fällt uns schwer.

Ein Ende des Politischen wird es nicht geben, aber das große sozialdemokratische Nachkriegsprojekt, das alle entwickelten westlichen Industriegesellschaften mehr oder weniger intensiv angestrebt haben, ist tot. Vor allem deshalb, weil es den Post-Keynesianismus als ökonomische Voraussetzung dafür nicht mehr gibt. Die „Gesellschaft“ als Referenzrahmen politischen Handelns hat längst nicht mehr den Stellenwert, den sie früher einmal hatte. Die Neue Rechte versucht nun in etwas vorzustoßen, das von vielen Menschen als Leerstelle oder als Vakuum empfunden wird. Etwa wenn sie einen ausgedienten und hierzulande so vergifteten Begriff wie den der Nation wiederbeleben will. Im Kern aber ist es eine Gegenreaktion. Der Trumpismus in den USA stellt lediglich eine andere Spielart dieser Gegenreaktion dar, sie ist ihr wesensgleich.

Oder die Politik eines Boris Johnson oder die eines Viktor Orbán…

Natürlich, das alles sind Varianten dieser Renationalisierung: Die zur Schau getragene Verachtung der EU und der damit verbundene Irrglaube, dass transnationale Lösungen Staaten ins Unglück führen würden, weil man dann keine eigene Steuerungskraft mehr besitze. Orbán hat vorgemacht, wie erfolgreich man damit auf viele Jahre hinweg sein kann – und wie man die EU vorführt, wenn man nur dreist genug vorgeht. Ich halte es übrigens für nicht ausgeschlossen, dass wir auch in Deutschland einmal an diesen Punkt gelangen.

Verführerisch sind diese Angebote zweifellos. Auch viele Linke und Linksliberale vermissen eine stärkere gesellschaftliche Gebundenheit des Individuums. Der Kommunitarismus der 90er und Nullerjahre war eine „linke“ Antwort auf diese Sehnsüchte.

Sehnsucht stellt in erster Linie ein subjektives Gefühl von Individuen dar. Der Globalisierungsprozess, der sich unter neoliberalen Vorzeichen durchgesetzt hat, steht quer zu allem, was eine Re-Nationalisierung bewirken kann. Wer glaubt, zur Nation zurückkehren zu können, schadet langfristig dem eigenen Wohlstand. Im Übrigen ist die Nation zu groß, um die Wärme abzugeben, die von manchen herbeigesehnt wird.

Wem die Nation zu abstrakt ist, der kann ja im Zeichen germanischer Götter Kampfsport trainieren, esoterische Lesezirkel bilden oder biologische Landwirtschaft auf der eigenen Scholle betreiben. Die Logik der globalisierten Wirtschaft zurückzuweisen, ist doch gerade Bestandteil neurechten Denkens…

…das schafft die Tatsache, dass Re-Nationalisierungen einer Volkswirtschaft in der globalisierten Welt stets schaden, aber auch nicht aus der Welt.

Bei der Globalisierungskritik haben wir es mit einem Querfront-Phänomen zu tun. Wie sehen Sie das als Sozialwissenschaftler?

Das gilt nicht nur für die Globalisierungskritiker, sondern ganz aktuell auch für die sogenannten Querdenker. Der Soziologe Oliver Nachtwey behauptet nun, dass die Anti-Corona-Demonstrationen, die sich gegen die von den Virologen diagnostizierten Fakten ebenso wie gegen die von der Bundesregierung verhängten Verordnungen wenden, die „erste postmoderne Bewegung“ seien. Es ist zwar kaum zu bestreiten, dass es sich bei diesen Demonstrationen um ein nie dagewesenes Gemisch aus Rechten wie Linken, aus Religiösen wie Esoterikern und so weiter handelt, aber es ist ein Fehler dieses Weltanschauungsgebräu nun auch noch als „postmodern“ zu adeln. Damit würde sein antidemokratischer Kern soweit relativiert, dass er nur zu leicht im Nebel des Ungefähren unsichtbar wird.

Kommen wir zum Ausgangspunkt unseres Interviews zurück, zur Studentenbewegung, die eine männlich geprägte und von Männern dominierte Bewegung war. Böse Zungen, nicht die Dümmsten, haben behauptet, die 68er hätten die existenzielle Erfahrung, die ihre Väter und Großväter auf den Schlachtfeldern Europas erleben mussten, in Straßenkämpfen mit der Polizei nachspielen wollen. Ist das eine unzulässige Polemik?

Zuweilen können solche Vermutungen durchaus polemisch wirken. Das allein ist aber noch kein Grund, sie nicht auch als Hypothese in eine Debatte einführen zu können. In diesem Fall scheint es sich mir aber um einen eher kurzschlüssigen Gedanken zu handeln. Denn warum sollten gerade diejenigen, die unter der Schuld ihrer Väter litten, von denen sie ja viele gar nicht mehr erlebt hatten, weil sie im Krieg gefallen waren, ihnen nun in einem Kampf 2. Grades, dem Straßenkampf, unbedingt nacheifern? Das scheint mir wenig Sinn zu ergeben. Ich würde genau umgekehrt argumentieren. Die existentielle Dimension, die in der antiautoritären Revolte mitschwang, dürfte damit etwas zu tun gehabt haben, dass die Herausforderung durch den Staat und seine Institutionen, all die falschen Autoritäten, so übermächtig wirkten. Um ihnen etwas abzutrotzen, bedurfte es zuweilen mehr als bloßer Spaziergangsdemonstrationen.

Jetzt sind uns die 68er ein bisschen zu schlecht weggekommen. Wir haben sie später als unsere Lehrer und Hochschullehrer erlebt und ihnen durchaus positive Impulse zu verdanken. Können Sie in wenigen Worten sagen, wofür wir den 68ern dankbar sein sollten?

Hauptimpuls und Hauptverdienst der damaligen Studentenbewegung war, dass sie alles infrage gestellt hat. Das war in der Nachkriegsgesellschaft, die nach vorn geschaut und den Blick in die Vergangenheit tunlichst vermeiden wollte, absolut nicht erwünscht. Es gehörte viel Elan und Beharrlichkeit dazu, das zu durchbrechen. Es ging natürlich auch darum, dass der Vietnamkrieg beendet wird, dass die Notstandsgesetze verhindert werden und so weiter. In diesen Auseinandersetzungen aber haben sich die Beteiligten selbst verändert. Dazu nur eine Episode: Während einer Vorlesung bei Alexander Mitscherlich stand eine Kommilitonin plötzlich auf und sagte: „Ich möchte nur sagen, dass ich Angst habe, Angst, hier überhaupt etwas zu sagen.“ Das wäre zuvor undenkbar gewesen. Dieser grundlegende kulturelle Wandel war folgenreich.

Sie haben auf sehr hohem Niveau argumentiert. Erlauben Sie zum Abschluss eine simple Frage: Ist an der Redensart, dass man in der Jugend links sei und mit dem Alter nach rechts rücke, aus wissenschaftlicher Sicht was dran?

Diese im Alter vollzogene Umorientierung oder gar Kehrtwendung ist schon ein Phänomen, das man häufiger beobachten kann. Bei denjenigen, über die wir gesprochen haben, kommt häufig noch ein Neidfaktor dazu. Die haben in den 80ern und 90ern gesehen: Jetzt gelangen Leute aus meiner eigenen Alterskohorte an die Macht, und ich bin außen vor. Bei Horst Mahler war das jedenfalls ein sehr starkes Motiv. Allerdings ist so ein Rechtsschwenk nicht unbedingt ein Massenphänomen. Und ich selbst begreife mich deshalb auch nicht etwa als die große Ausnahme, sondern eher als ein typischer Vertreter meiner Generation, wenn ich sage: Die Vorstellung von der Nation als Schicksalsgemeinschaft und Sinnstifterin turnt mich nicht an. Ich erwarte von ihr weder Nestwärme noch irgendeinen höheren Sinn, sondern stehe nach wie vor ziemlich fassungslos daneben, wenn Menschen solche Erwartungen hegen.

* Das Relief „Tod eines Demonstranten“ des Bildhauers Alfred Hrdlicka steht vor der Deutschen Oper in Berlin. In der Nähe wurde am 2. Juni 1967 während einer Demonstration gegen den Deutschlandbesuch des Schahs von Persien der Student Benno Ohnesorg von dem Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras erschossen. Dies war der Beginn einer mehrere Jahre andauernden Welle von jugendlichen Straßenprotesten, die sich teilweise zu Barrikadenkämpfen entwickelten. Im Jahr 2009 entdeckte man in DDR-Akten, dass Kurras ein Stasiagent war.

**Außerparlamentarische Opposition: In den späten 60er-Jahren übliche Sammelbezeichnung für verschiedene linke Gruppen, die vornehmlich durch Straßenproteste in Erscheinung traten. Die wichtigste Organisation innerhalb der APO war der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS)  

***Kraushaar, der sich 1968 der Studentenbewegung anschloss, war 1974/75 Vorsitzender des Frankfurter AstA. Von 1987 bis 2015 arbeitete er am Hamburger Institut für Sozialforschung, anschließend für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.