Als noch niemand voraussah, welche kulturelle Hegemonie die grüne Weltanschauung erlangen würde, provozierte der Soziologe Karlheinz Messelken mit einer steilen These: Der Ökologismus habe die beiden großen Mythen des 20. Jahrhunderts abgelöst, den Rassismus und den „Klassismus“. Alle drei hätten viel gemeinsam
Die Grünen hätten ihren Zenit überschritten, kann man derzeit in vielen Variationen lesen und hören. Ob die Partei tatsächlich dauerhaft Wähler verlieren wird, weiß niemand. Viele totgesagte Bewegungen sind wiederauferstanden. Sicher ist jedoch: Im vergangenen halben Jahrhundert hat die grüne Weltanschauung (weit über die Partei hinaus) eine kulturelle Vorherrschaft erreicht, die alle konkurrierenden Interpretationen der Wirklichkeit überragt – und dies in allen westlichen Industrieländern, aber ganz besonders in Deutschland. Die Rettung zunächst der Umwelt und später des Klimas wurde zum Leitmotiv an den Universitäten, in den Redaktionen, im Kulturbetrieb, Bildungswesen, Kirchen und allen politischen Parteien.
Jede Zeit hat ihren Mythos, der ihr eine Sinnstruktur gibt, als unbestreitbar gilt, die Deutung des Weltgeschehens bestimmt und die gesellschaftliche Kommunikation prägt. In Europa war der Rassismus lange Zeit solch ein alles durchdringender Mythos. Ebenso die Auffassung, alles, was geschieht, lasse sich mit den Klassengegensätzen erklären. Durch das Erringen absoluter Macht – des Rassismus in Deutschland und des „Klassismus“ (eine Wortschöpfung Messelkens) in der Sowjetunion – und die daraus resultierenden schrecklichen Folgen sind beide Mythen nachhaltig diskreditiert. Ihr vitaler Nachfolger ist der Ökologismus, dessen Paradigmen heute als ebenso wissenschaftlich gesichert und moralisch unabweisbar gelten wie einst die Rassenlehre (nebst Eugenik) und der „wissenschaftliche Marxismus“. So die These des Soziologen Karlheinz Messelken, die er bei seiner Abschiedsvorlesung an der Universität der Bundeswehr in Hamburg (heute Helmut-Schmidt-Universität) im Jahr 1998 formulierte, also zu einer Zeit, als das grüne Denken gesellschaftlich noch nicht allgemeingültig war.
Der heute über 90-jährige Messelken, den ich persönlich nie getroffen habe, schickte mit damals die Broschüre, die die Universität aus den Redebeiträgen der Abschiedsfeier hat drucken lassen. Vermutlich tat er das, weil zur gleichen Zeit das Buch „Lexikon der Öko-Irrtümer“ von Dirk Maxeiner und mir einigen Wirbel in der Öffentlichkeit verursachte. Ich las und war beeindruckt. Während wir Fehler der Umweltpolitik kritisierten und populären Irrglauben über die regionalen und globalen ökologischen Zustände aufklärten, hatte er bereits damals den grünen Glauben als eine „politische Religion“ erkannt und beschrieben.
Kürzlich fischte ich die schmale Broschüre, die ich lange vergessen hatte, aus meinem Bücherregal und staunte erneut. Sie hätte fast wortgleich 2024 geschrieben sein können. Nur dass die Themen Umweltschutz und Naturschutz mittlerweile völlig von Klimapolitik überwölbt worden sind, konnte Messelken noch nicht wissen. Zur damaligen Zeit war die Klimaerwärmung noch ein Umweltthema unter vielen. Der Originaltitel seiner Vorlesung lautete „Die Mythen des 20. Jahrhunderts – Rasse, Klasse, Umwelt“. Heute wäre „Rasse, Klasse, Klima“ treffender.
Die These, dass die grüne Perspektive ein Mythos sei und als solcher Gemeinsamkeiten mit den anderen beiden Mythen aufweist, welche einem Großteil der Europäer im 20. Jahrhundert als Welterklärung dienten, klingt heute noch provokanter als 1998. Ist es nicht hundertfach wissenschaftlich bewiesen, dass unser Planet vor dem Kollaps steht? Dass der Mensch durch seine Gier sich selbst und alles andere Leben zerstört? Und wie kann es einer wagen, diese ökologische Einsicht mit der Klassenhassideologie kommunistischer Diktatoren vergleichen? Oder gar mit dem menschenverachtenden Wahn der Rassenlehre, die in Deutschland in ihrer antijüdischen Zuspitzung in millionenfachen Mord mündete?
Aber gemach, Messelken setzt die drei Mythen nicht gleich, sondern beleuchtet ihre Funktion als „Sinnstrukturen der modernen Massengesellschaft“, die nach zeitgemäßer Deutungsgewissheit dürstet, seit ihr der Gottesbezug abhandengekommen ist. Heute fragen wir uns, wie konnte es sein, dass die Rassen- und die Klassentheorie einmal so überzeugend schienen, dass Kritik an ihnen nur noch leise oder verklausuliert geäußert wurde. Gern wird vergessen, dass beide als wissenschaftlich unbestreitbar galten. Lange bevor die Rassenlehre 1933 in Deutschland zur Staatsdoktrin wurde, wirkte der Rassenmythos „…etablierte sich als Forschungsidee, inspirierte Hypothesen, suchte nach Stützung durch Experimente, fand Niederschlag in Lehrsätzen und wissenschaftlich geleiteter Praxis. In der Humanmedizin etwa verband sich das Studium von Erbkrankheiten mit Programmen zu ihrer Prävention durch Ausschluss genetisch belasteter Individuen von der Fortpflanzung.“
Heutige Geschichtsbetrachtungen fokussieren beim Thema Rassenideologie meist auf den Rassendünkel der Kolonialmächte und den antisemitischen Rassenhass der Nazis und vergessen dabei, dass die Rassenlehre international Allgemeingut war und als bewiesen galt. Beim Wort „Eugenik“ denkt man an die Ermordung der Menschen, die in Nazi-Deutschland als „unwertes Leben“ bezeichnet wurden. Eugenik und die mit ihr verbundene Rassenlehre waren jedoch wissenschaftlich etablierte Weltanschauungen, die kaum jemand in Zweifel zog. Staatliche eugenische Maßnahmen, wie die massenhafte Zwangssterilisierung Erbkranker, waren allgemein üblich von Schweden bis in die Vereinigten Staaten. Geistesgrößen wie George Bernhard Shaw oder der Pionier des amerikanischen Naturschutzes Madison Grant propagierten Eugenik.
Auch der Marxismus hatte einst den Status einer Wissenschaft. Und das nicht nur in den Ländern, die dies von Staats wegen verordneten, sondern auch unter westlichen Akademikern und Intellektuellen. Angesehene Ökonomen, Philosophen und Soziologen interpretierten das gesamte Weltgeschehen nur noch eindimensional. Was immer auch geschah, es wurde als Ausdruck des Klassenkampfes gedeutet, egal ob Religionskrieg, Stammesfehde oder Terroranschlag. Der Soziologe Messelken hat diese intellektuelle Verirrung an den Universitäten selbst erlebt. Er schreibt: „Daraus kann mein Fach am eigenen Beispiel lernen, wie verführbar die Wissenschaft ist, wie bereitwillig sie sich einspannen lässt, wie schnell sie ihre problematischen Sätze in assertorische umformuliert, wenn sie sich eingeladen fühlt, an einer Einfluss und Prestige verheißenden sozialen Konstruktion der Wirklichkeit teilzunehmen.“
Den Ökologismus hält Messelken für ein ebensolche „Konstruktion von Wirklichkeit“, die Deutungsmuster nahelegt, konkurrierende Deutungsmuster delegitimiert, sich gegen Zweifel immunisiert und einen „dringlichen Zwang“ zur mentalen Gleichschaltung ausübt. „So wie die Soziologie zu Handlangerdiensten für die Klassenideologie bereit war, …so wie sich die Genetik der Rassenideologie andiente, …so stellen sich heute in erstaunlicher Breite Klimaforschung und medizinische Epidemiologie, Strahlenphysik und Botanik, aber auch die Geisteswissenschaften bis hin zur Theologie auf den Umweltmythos ein und ranken sich an ihm empor.“
Für Messelken ist die grüne „Konstruktion von Wirklichkeit“ wie ihre historischen Vorgänger mehr als eine geistige Mode oder ein Zeitgeistphänomen. Er bemüht den alten Begriff des „Mythos“, den er als Versuch der Menschen beschreibt, die Widersprüche der Lebenswirklichkeit, die Sinnzweifel und Existenzängste „durch kühnen Glauben, magische Beschwörung und entschlossenes Handeln“ zu bannen. Dafür braucht der Einzelne die Gemeinschaft und eine gemeinsame Vorstellung von dem Schicksal, das den Menschen bestimmt sei. „Der Mythos bildet den Mittelpunkt des kollektiv vergewisserten Weltverhältnisses… Sobald jemand in die mythisch organisierte Kommunikation einbezogen ist, gelten ihm bestimmte Wahrnehmungen als unübersehbar, bestimmte Gedankenfolgen als unbestreitbar, bestimmte Prioritätensetzungen als unabweisbar. Wer hier dissentiert, dem scheint es nicht nur an gutem Willen zu mangeln, sondern mehr noch an gesundem Menschenverstand. Der dem Mythos Verbundene ist durchdrungen davon, dass außerhalb seines Lichtes weder Wahrheit der Erkenntnis noch Rat zu erfolgreicher Praxis zu finden sei.“ Die Zustandsbeschreibungen der Umwelt, die Prognosen und Zukunftsprojektionen werden als objektive Wahrheiten betrachtet. Der postmodernen Kritik, die ansonsten das Konstruktivistische in allem betont, kommt beim Thema Klima der kritische Blick für den Konstruktionscharakter der Bilder völlig abhanden.
Als Messelken 1998 seine Abschiedsvorlesung hielt, war das grüne Denken schon tief in der Gesellschaft verwurzelt, aber hatte erst in geringem Maße die Institutionen des Staates erfasst. Der Umweltmythos sei noch kein Staatsmythos schrieb er, „zwar kann im öffentlichen Raum kaum noch etwas geschehen, was seine Argumente nicht aufnimmt, aber noch kann er nicht diktieren, was geschieht. In dieser Differenz besitzt er einen Vorteil gegen die beiden anderen säkularen Mythen: Er ist noch nicht kompromittiert. Der Absolutheitsanspruch der sozialen Bewegung, die er geistig inspiriert und die ihn materiell trägt, hat bisher noch nicht alleinzuständig über das politische Herrschaftssystem verfügen können, um den Gesellschaftsverlauf ganz nach seinen Prioritäten auszurichten.“ Allerdings sah der Soziologe voraus, was wir heute erleben: „Wenn der Ökologismus jemals zur alleinherrschenden Staatsdoktrin werden sollte, so wird auch er rigide Investitionslenkung und Nachfragesteuerung verwirklichen müssen, um seine Ziele zu erreichen.“
Hier geht’s zum Text der Abschiedsvorlesung. Die Lektüre lohnt sich.