Vegan-Etikett auf Marx

Soja statt Sozialismus? Manche meinen, das wäre linksliberal (Foto: M. Miersch)

Der Wörterklau geht um

Von Michael Miersch

Nachdem es gelungen ist, die politische Kategorie „rechts“ zu einem Synonym für „böse“ umzufunktionieren, wird nun „linksliberal“ umgedeutet

Stellen Sie sich vor, ein akademischer Zirkel von Vegetariern käme zu dem Schluss, dass Fleischverzicht gar nicht mehr so wichtig sei. Viel wichtiger sei es, Tee statt Kaffee zu trinken. Marketingleute, Journalisten und politische Aktivisten verbreiten die neue Definition. Nach und nach gerät der ursprüngliche Sinn des Wortes „vegetarisch“ in Vergessenheit. Irgendwann ist es normal, Teetrinker Vegetarier zu nennen. Weist jemand darauf hin, dass Vegetarismus einmal eine fleischlose Ernährungsform bezeichnete, wird er als gestrig belächelt.

Sie glauben, das sei eine absurde Fiktion? So etwas gibt es nicht? Semantische Umdeutungen dieser Art finden im öffentlicher Dauerpalaver unentwegt statt. Wir haben schon etliche davon erlebt – und kaum einer hat es bemerkt. Momentan versuchen Anhänger der grün-woken Weltanschauung die Kategorie „linksliberal“ zu kapern.

Es ist eine Binsenweisheit, dass das Besetzen von Begriffen oftmals entscheidend ist für die Durchsetzung einer politischen Agenda. Nicht umsonst sind und waren Diktaturen besonders emsig darin, ihre wahren Absichten durch das Umdeuten von Worten zu vernebeln. In der DDR hieß Aufrüstung „Friedenssicherung“. Tödliche Grenzanlagen, die die eigene Bevölkerung einsperrten, wurden als „Antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet. Letzteres ist ein Beispiel dafür, dass Begriffsmanipulationen auch misslingen können. In der Endzeit der DDR benutzten sogar SED-Funktionäre das Wort „Mauer“. Es lohnt sich also, es nicht einfach hinzunehmen, wenn Begriffe umgedeutet werden. Man sollte es den Wortverdrehern nicht zu leicht machen.

Die politische Kategorie „rechts“ wurde in den vergangenen Jahren kampflos aufgegeben. Heute steht „rechts“ nur noch für alle Übel dieser Welt. Dabei war „rechts“ vor nicht allzu langer Zeit eine stinknormale politische Koordinate, wie „links“. Rechts stand im weitesten Sinne für alle Strömungen, die Althergebrachtes bewahren wollten und die Interessen der Besitzenden vertraten. Neonazis wie Michael Kühnen charakterisierte man als rechtsradikal oder rechtsextrem. Dann begann in den 1980er-Jahren der Kulturkampf gegen „rechts“, der mittlerweile als erfolgreich abgeschlossen betrachtet werden kann. Heute werden bei Höcke und Konsorten die Zusätze „extrem“ oder „radikal“ grundsätzlich weggelassen. „Rechts“ bedeutet nun „unmoralisch, bösartig, menschenfeindlich“. Ludwig Erhard oder Helmut Kohl hätten nichts dagegen gehabt, rechts genannt zu werden. Heutige CDU-Funktionäre verbitten sich das. Es gibt kein anständiges „rechts“ mehr.

Derzeit versuchen semantische Eroberer erneut, eine politische Kategorie zu kolonisieren. Auf einer ganzen Seite der „Zeit“ (Ausgabe vom 27. April 2023) nehmen die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Gesellschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey den „Linksliberalismus“ gegen seine Gegner in Schutz. Zumindest tun sie so. Wer den Text liest, stellt schnell fest, es geht ihnen um etwas anderes, um die Definition dessen, was Linksliberalismus sein soll. Die Definition der beiden beinhaltet alles, womit sich die grün wählende Mittel- und Oberschicht distinguiert: „Gendern, Klimaproteste, Transrechte, Fleischverzicht in der Kantine, Einschränkung des individuellen PKW-Verkehrs.“ Ironisch fügen sie noch „Lastenfahrräder“, „Bio-Lebensmittel“ und „Holzspielzeug“ hinzu, an denen man angeblich typische Linksliberale erkennen würde. Weiter hinten im Text werden zwei weitere wichtige Merkmale genannt: „Identitätspolitik“ und „Klimabewusstsein“. Man reibt sich die Augen und versucht sich zu erinnern, ob auch nur eines dieser Themen in den Werken linker oder liberaler Denker Erwähnung findet. Weder Mill, noch Marx oder Bebel predigten Identitätspolitik oder Verzicht. Das taten damals andere, die ihre Gegner waren.

Bei aller erbitterten Feindschaft zwischen den vielen unterschiedlichen linken Strömungen blieb ein grundsätzlicher Gegensatz zu rechten Weltanschauungen bestehen: Während Rechte die Unterschiede zwischen den Menschen betonten und der Meinung waren, man müsse diese Unterschiede bekräftigen und keinesfalls alle gleich behandeln, wollten Linke immer das Gegenteil. Klasse, Geschlecht, Herkunft oder Hautfarbe sollten keine Bedeutung mehr besitzen. Gleichbehandlung ohne Ansehen biologischer, sozialer oder kultureller Unterschiede, darauf hätten sich alle Linken einigen können, auch wenn sie sonst in nichts einer Meinung waren.

Amlinger und Nachtwey definieren links nach dem Geschmack des Zeitgeistes. Damit sind sie leider nicht allein. Einflussreiche Gruppen, vornehmlich an den Universitäten und im Kulturbetrieb, entsorgten im Laufe der 2000er-Jahre die Klassenfrage und den Fortschrittsgedanken und übernahmen dafür Denkweisen, die noch vor einem halben Jahrhundert zum geistigen Fundus von Nationalisten und Völkischen gehörten. Nun sollen die Unterschiede zwischen den Menschen das Wichtigste sein. Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht werden als konstituierende Größen betrachtet, die die Sichtweisen und Standpunkte eines Menschen lebenslang bestimmen.

Gemäß dieser Ideologie ist eine schlecht bezahlte Arbeiterin in erster Linie eine Frau und wird als solche unterdrückt. Sie ist jedoch auch Teil der Machtstrukturen, sobald sie sich selbst als Frau definiert und damit Menschen mit non-binärer Geschlechtsidentität ausgrenzt. Als Weiße steht sie automatisch unter Rassismusverdacht und gilt als Teil eines Unterdrückungszusammenhanges, der schwarze Menschen erniedrigt. Was an solchen Konstruktionen linksliberal sein soll, erklären Amlinger und Nachtwey in ihrem Zeit-Text nicht.

Was die beiden als linksliberal titulieren, sind schlicht und einfach fixe Ideen der Grünen und der hyperventilierenden Social-Media-Sekte, die „woke“ genannt wird. Bis zum Siegeszug des grünen Denkens forderten Linke aller Fraktionen grundsätzlich, dass die Armen mehr vom Wohlstandskuchen abhaben sollten. Die Früchte des Wirtschaftswachstums müssten gerechter verteilt werden. In einer idealen Gesellschaft wären aus damaliger linker Sicht alle reich. Linksliberale wollten soziale Gerechtigkeit mit marktwirtschaftlichen Mitteln erreichen. Die Verdammung von Wohlstand und Wachstum, die heute zum Standardprogramm der Grünen und Woken gehört, war früher eher Sache der Kirchen, die Bescheidenheit und Geringschätzung des Materiellen predigten. Das grüne Ziel Lebensmittel und Energie zu verteuern, lässt sich mit klassischer linksliberaler Sozialpolitik nicht vereinbaren. Warnungen vorm Weltuntergang nebst Aufrufen zur Umkehr gehörten zur Denkart reaktionärer Kulturpessimisten à la Martin Heidegger.

Liebe Linke und Linksliberale, lasst euch von den Amlingers, Nachtweys und ihren, woken, indentitären, postkolonialen, grünen und queeren Gefolge nicht in die rechte Ecke schieben. Was „linksliberal“ bedeutet war schon immer ein bisschen verschwommen, aber nie so diffus, dass irgendjemand Klimaangst oder Identitätspolitik darunter verstanden hätte. Alle unterschiedlichen Ausprägungen linken Denkens haben eine Grundannahme gemeinsam: Es macht einen großen Unterschied, ob ein Mensch zu den Besitzlosen oder den Besitzenden gehört. In den allermeisten Fällen ist das entscheidender, als die Frage, ob der Mensch vielleicht schwul ist, oder dunkelhäutig oder den Strom aus Windkraft bezieht.