Bücher von Marko Martin

Marko Martins Bücher über Dissidenten und Ketzer (Foto: M. Miersch)

Die Besten waren links

Von Michael Miersch

Marko Martin erinnert in seinem neuen Buch an Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, die in Zeiten totalitärer Bedrohungen wieder höchst aktuell sind

Seit der französischen Revolution existiert der Begriff „links“ als politische Kategorie. Was jedoch unter „links“ verstanden wird, hat im Laufe der Jahrhunderte mehrmals gewechselt. Heute begreifen viele darunter eine Art moralisierende Gesinnungspolizei, die überall Rassismus, Postkolonialismus und Transfeindlichkeit wittert, die Sprache von bösen Worten säubern will und die Welt vom Kohlendioxid. Könnte man Linke aus der Mitte des 20. Jahrhundert per Zeitmaschine herbeizaubern, würden sie sich gewaltig darüber wundern und nicht recht verstehen, warum ihre Epigonen sich so sehr in die einst rechte Identitätspolitik verliebt haben.

Reichlich Dummheit und blinden Fanatismus gab es allerdings auch unter den damaligen Linken. Der Historiker Gerd Koenen hat in seinem Buch „Die großen Gesänge“ (Eichborn 1991) gesammelt, welche Hymnen Intellektuelle auf Stalin, Mao und andere Massenmörder verfasst hatten. Bis heute gelten einige von ihnen als große Geister im Range von Klassikern. Wer darauf hinweist, dass Brecht, Sartre und andere verehrte Dichter, Denker und Künstler zeitlebens Diktaturen relativierten und Gewalt huldigten, gilt als kleinkariert. Als Naivling, der Werk und Künstler nicht trennen kann.

Ausgerechnet die Schönfärber des Totalitarismus werden in Schulbüchern, auf Theaterbühnen und im gutbürgerlichen Kulturkanon geehrt. Dabei gäbe es so viele andere zu entdecken, sowohl ihre literarischen und künstlerischen Werke als auch ihre politische Klugheit und Weitsicht. Die anderen, das sind die, die bereits in den 1930er-Jahren sahen, dass die neuen Herren der Sowjetunion Freiheit, Gerechtigkeit und jegliche Menschlichkeit erstickten. Und dies auch laut sagten, was ihnen den Hass der vielen Jasager einbrachte. Wer waren diese anderen? Sozialdemokraten, die keinen Sozialismus ohne Demokratie wollten. Aber auch freie Geister ohne Parteibindung und solche, die den Sieg der Roten in Russland anfangs für einen Schritt zur Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung gehalten hatten. Wenige von ihnen sind heute noch berühmt. Eigentlich nur George Orwell und Albert Camus. Unter Kennern vielleicht noch Arthur Koestler und Manés Sperber.

Das Vergessen der vielen anderen klugen und anständigen linken Intellektuellen ähnelt dem Verdrängen der Parteigeschichte der KPD. Genau drei KPD-Führer wurden in der DDR ausgiebig gefeiert: Die Mitbegründer Luxemburg und Liebknecht und der letzte Vorsitzende Ernst Thälmann. Daran hat sich nach dem Ende der DDR nicht viel geändert. Nur Historiker kennen noch die Namen der leitenden Genossinnen und Genossen der 1920er-Jahre. Dabei waren gerade unter diesen Politikern der Vor-Thälmann-Zeit kluge Köpfe, die keine Befehlsempfänger des Kremls sein wollten. Manche, wie der spätere Berliner Bürgermeister Ernst Reuter, brachen mit dem Kommunismus und wurden Demokraten, andere wurden von Stalins Schergen hingerichtet.

Ähnlich verhielt es sich mit den Künstlern und Intellektuellen der Weimarer Zeit. Es gab damals gar nicht so wenige, die selbständig dachten und der totalitären Propaganda nicht auf den Leim gingen. Sie waren die Besten ihrer Epoche. Aber wer kennt sie noch? Am Vergessen dieser Dissidenten und Ketzer haben sowohl die Konservativen ein Interesse, die linke Denkwege pauschal als totalitär oder illusionäre diskreditieren wollen. Als auch der orthodoxe Teil der Linken, der Zweifler und Abweichler nie mochte.

Die Aussteiger aus den Ideologien haben uns Heutigen womöglich mehr zu sagen, als die in Lorbeer und Weihrauch konservierten Großdenker wie Brecht und Sartre. Doch leider geraten sie immer tiefer in Vergessenheit. Wenige erinnern sich ihrer und transportieren ihr geistiges Erbe in die Gegenwart. Einer der dafür seit Jahren unermüdlich Brücken ins heute baut, ist der Schriftsteller Marko Martin. Nachdem er 2019 die Wege und Umwege vieler dieser halb oder ganz Vergessenen in dem Buch „Dissidentisches Denken“ (Die Andere Bibliothek, 2019) hat lebendig werden lassen, folgte jetzt „Brauchen wir Ketzer? – Stimmen gegen die Macht“ (Arco Verlag, 2023).

Jeden der darin geschilderten Lebensverläufe könnte man eine „Jahrhundertbiographie“ nennen. Denn alle diese „Ketzer“ waren zugleich Opfer und Gestalter ihrer Epoche. Zum Beispiel Alice Rühle-Gerstel, die polyglotte Schriftstellerin, Übersetzerin, Individualpsychologin, Pädagogin, Frauenrechtlerin und Sozialistin aus Prag, die von den Häschern Hitlers und Stalins gehetzt in Mexiko Zuflucht fand. Dort wurden sie und ihr Mann, der antiautoritäre Sozialist Otto Rühle, von den Moskautreuen wie Anna Seghers und Egon Erwin Kisch aus dem Kreis der europäischen Exilanten verbannt und geächtet. Willkommen waren sie bei Frieda Kahlo und Diego Rivera. Trotzki, der berühmteste Exilant der damaligen Zeit, dessen marxistische Dogmatik sie ablehnten, schätzte die Rühles als intellektuelle Sparringpartner. „So geht es zu auf der Welt / Wir hatten‘s uns anders gedacht / Aber wir sind zerschellt / Eh wir es anders gemacht,“ heißt es in einem der Abschiedsgedichte von Alice Rühle-Gerstel. Wie hätte dieses „Andersmachen“ ausgesehen? „Unkonventioneller, risikofreudiger, ehrlicher und vor allem: humaner“, schreibt Marko Martin. Nach dem Herztod ihres Mannes nahm sich Alice Rühle-Gerstel das Leben.

Oder Leo Lania, der spätere Freund und Biograph Willy Brandts. Frühzeitig erkannte er, wie gefährlich die anfangs von vielen noch als kuriose Käuze unterschätzten Nationalsozialisten waren. Getarnt mit einer falschen Identität als Emissär Mussolinis traf er Hitler und Röhm, um ihren Wahn und ihre Ziele besser beschreiben zu können. Ein Intermezzo in der Kommunistischen Partei Österreichs blieb kurz, weil er echte Menschen achtete und nicht nur eine abstrakte Menschheit. Auf Reisen in die Sowjetunion der 1930er-Jahre fiel er nicht auf die Propagandafassade herein, sondern blickte dahinter. Lanias aufrechte Haltung beschreibt Marko Martin in einem Satz so: „Skeptiker, Sozialdemokrat, Anti-Apokalyptiker, Antikommunist ohne Renegaten-Eifer, linksliberaler Warner gleichermaßen vor kommunistischem Weltherrschaftsanspruch wie vor einer McCarthy-Hysterie, die beim Gegner die Instrumente borgt und alsdann das ihrige tut, um die Demokratie zu schwächen.“

Was hatten diese Frauen und Männer gemeinsam? Sie waren politisch links im klassischen Sinne, also für die Besitzlosen und gegen die Besitzenden, für die Freiheit und gegen die Knechtschaft, für universelle Menschenrechte und gegen identitäre Beschränktheit. „Wir stehen in gegnerischer Haltung zur Macht…weil wir jeden Morgen unser Gesicht im Spiegel sehen wollen, ohne schaudern zu müssen,“ schrieb der Journalist und Schriftsteller Fritz Beer, dem Marko Martin in dem Buch ebenfalls ein Kapitel widmet. Manche blieben links, andere waren es nur in der ersten Hälfte ihres Lebens. Einige wurden später sehr konservativ, wie der Schriftsteller Hans Habe, der mit der US-Armee kämpfte, um Hitler zu besiegen und später gegen alles polemisierte, was für ihn nach Kommunismus roch. Und noch etwas haben die Porträtierten gemeinsam. Alle stammten aus jüdischen Familien. Vielleicht erklärt das, warum sie früh erkannten, dass die Nationalsozialisten es nicht bei wütendem Gebrüll belassen werden. Auch was in der Sowjetunion falsch lief, bemerkten sie lange vor anderen. Ausgrenzungserfahrungen hatten ihren Blick geschärft. Zum Beispiel dafür, dass unter den alten Revolutionären, die Stalin erschießen ließ, auffallend viele Juden waren. Auch Hitler hatte das bemerkt und in seinen Tischgesprächen darüber spekuliert, ob der sowjetische Diktator womöglich ein antisemitischer Bruder im Geiste sei. Was damals noch Mutmaßung war, wurde kurz vor Stalins Tod offenbar. Als Reaktion auf eine von ihm erfundenen „Ärzteverschwörung“ trat er 1953 eine antisemitische Kampagne los, die zu zahlreichen Verhaftungen und Hinrichtungen führte. Glücklicherweise starb er kurz darauf und seine Nachfolger brachen die Aktion ab.

„Ich war immer interessiert an dem, was in einer Zeit ausgesperrt wurde,“ zitiert Marko Martin Ludwig Marcuse, einen der im neuen Buch porträtierten „Ketzer“. Sie alle haben verdient, nicht aus dem kulturellen Gedächtnis „ausgesperrt“ zu werden. Es gibt wunderbare Alternativen zu den schöngeistigen Anbetern von Macht und Gewalt, denen Denkmäler gesetzt wurden. Man muss die Denkmäler nicht zertrümmern. Aber vielleicht am Sockel eine Fußnote anbringen: Es gab auch andere.

Marko Martin

„Brauchen wir Ketzer?“ – Stimmen gegen die Macht

Arco Verlag, Wuppertal 2023

484 Seiten, 20,- Euro