Eintopf gibt es manchmal auch in Demokratien (Bild: NS-Propagandaplakat)

Geistiger Eintopf aus der Volksküche

Von Michael Miersch

Die Zivilgesellschaft ist kein Garant für Freiheit. Auch dauernde Empörung der Öffentlichkeit kann dazu führen, dass kritische Stimmen behandelt werden wie einst Feindpropaganda

Autoritäre Systeme, so haben wir gelernt, entstehen von oben nach unten. Ein Herrscher oder eine allmächtige Partei tun alles, um immer mehr Macht zu erobern. Mit Hilfe der Behörden, der Polizei und des Militärs dringen sie in den letzten Winkel der Gesellschaft vor bis jegliche Freiheit erstickt ist. Auf der Strecke bleiben die freie Presse und die Zivilgesellschaft.

Seit in Deutschland die Angst vor einer sich anbahnenden globalen Klimakatastrophe alles überschattet, zeigt sich, dass die Freiheit auch in umgekehrter Richtung sterben kann: von unten nach oben. Wenn Zivilgesellschaft und Medien immer drohender, einschüchternder und einförmiger werden, können sie eine Einheitsgesinnung erzeugen, die dem genormten Denken ähnelt, wie man es aus Diktaturen kennt.

Bewegt sich diese These nicht hart am Rand des rechtpopulistischen Verschwörungsdenkens? Nein, im Gegenteil: Die in diesen Kreisen herbeiphantasierte „Merkel-Diktatur“ erklärt die Verhältnisse genau andersrum: Sie seien von langer Hand geplant und staatlich gesteuert.

Das verbreitete Gefühl, sich nicht mehr frei äußern zu können, wird jedoch nicht von einer allmächtigen Kanzlerin diktiert. Sie, die Regierung und das Parlament sind Getriebene der Öffentlichkeit. Wer ist diese Öffentlichkeit? Die Zivilgesellschaft, der Kulturbetrieb, Kirchen und die populären Medien, die in einem endlosen Zirkel wechselseitiger Bestätigung Meinungsstandards setzen. Dabei spielt es eine immer geringere Rolle, ob etwas sachlich richtig oder falsch ist – es geht um Gut gegen Böse. Viele Politiker halten diese diskursmächtige Öffentlichkeit für eine Mehrheit. „Nicht das Proletariat erweist sich am Ende des 20. Jahrhunderts als siegreiche Klasse,“ schrieb Michael Rutschky, „sondern die Boheme.“

Momentan erwächst in Deutschland ein immer strengerer Komment, was zur Klimakrise gesagt werden darf und was nicht. Wer widerspricht, macht sich zum Außenseiter. Die Schweigespirale (Noelle-Neumann) führt dazu, dass im öffentlichen Raum nur noch eine Sichtweise laut geäußert wird. Es zeigen sich Reflexe, die an geschichtliche Epochen erinnern, vor denen uns heute gruselt. Um es nochmals zu betonen: Es geht nicht um staatliche Repression. Niemand muss hierzulande Angst haben, dass morgens um vier die Geheimpolizei bei ihm klingelt. Wir leben in einer gefestigten Demokratie und der Unterschied zu totalitären Systemen ist fundamental. Jedoch definiert sich Freiheit nicht nur im Verhältnis von Bürger und Obrigkeit. Sondern die Bürger untereinander können sich mehr oder weniger Freiheit gönnen.

Auf diesem Feld gibt es sehr wohl bedenkliche Parallelen. Ein historisches Beispiel: Im Stalinismus wurde immer so getan, als sei das Land bedroht von Saboteuren, Verrätern, Spionen und Trotzkisten. Obwohl das Regime eine erdrückende Machfülle besaß, hielten die Propagandaorgane die Bevölkerung in permanentem Alarmzustand. Überall konnte der Feind lauern. Überall musste er entlarvt und geschlagen werden. Die Eltern einer russischen Bekannten erzählten einmal, sie hätten keine Ahnung gehabt, was ein Trotzkist überhaupt sei. Doch es wurde ihnen unentwegt eingetrichert, es seien die ganz Bösen, die an allem Übel schuld sind. Als in den späten 30er-Jahren die tatsächlichen Anhänger Leo Trotzkis längst alle erschossen waren, ging die Hatz noch viele Jahre weiter. Missliebige Personen wurde kurzerhand zum Trotzkisten gestempelt und verhaftet. Es etablierte sich ein Klima der Denunziation. Wer seinen Nachbarn oder Kollegen loswerden wollte, musste nur bei den Behörden angeben, jener hätte von der Parteilinie abweichende Gedanken.

Die heutige Entsprechung eines Trotzkisten ist der Klimaleugner. Wer kennt denn überhaupt einen Klimaleugner? Es gibt niemanden, die sich selbst als solchen bezeichnen würde. Und – nebenbei bemerkt – ist es eine absurde Wortkonstruktion. Wie kann man Klima leugnen? Klimaleugner ist nichts weiter als eine Totschlagvokabel, um jegliche Zweifel an den Vorhersagen des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) und des in Deutschland tonangebenden PIK (Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung) im Keim zu ersticken.

Politiker und Journalisten fordern, dass man endlich mehr gegen die Klimaleugner unternehmen müsse. Autoren, die die deutsche Energiewende kritisieren, beginnen ihre Texte mit dem Bekenntnis, dass sie keinesfalls Klimaleugner seien. Der Klimaleugner ist wie der Teufel im Mittelalter oder der Trotzkist im Stalinismus: hoch gefährlich, überall doch unsichtbar. Wenn früher von der UdSSR oder der DDR verkündet wurde, die Staatspartei habe in Wahlen über 90 Prozent der Stimmen erhalten, galt dies im Westen als Beleg dafür, dass dort etwas nicht stimmt. Heute beten die populären Medien gebetsmühlenartig die Behauptung nach, 97 Prozent der Wissenschaftler seien sich über die zu erwartende Klimakatastrophe einig. Dabei weiß jeder, der mal nachgelesen hat [1], woher diese Zahl stammt, dass sie ein Artefakt des australischen Kognitionsforschers John Cook ist.

Wer den Stalinismus-Vergleich zu krass findet, weil die Einheitsgesinnung ja in einer Diktatur mit dem Mittel staatliche Repression erzeugt wurde, dem hilft vielleicht ein Vergleich mit der McCarthy-Ära. Die Hexenjagd auf vermeintliche Kommunisten fand in einer ehrwürdigen Demokratie statt. Kommunisten waren in den Vereinigten Staaten eine winzige Minderheit. Es gab nicht im Entferntesten die Gefahr einer Revolution. Dennoch fühlten sich große Teile der Gesellschaft und viele Medien bedroht und waren davor überzeugt, dass das klägliche Häuflein Kommunisten unglaublich mächtig und einflussreich sei.

Denunziation, vorauseilender Gehorsam, Sprechtabus, der Glaube an mächtige aber unsichtbar agierende Bösewichter, Ausgrenzung von Kritikern, der starke Wunsch vieler Bürger, zur guten, tadellosen Mehrheit zu gehören und dies möglichst oft zu beteuern: Das sind Symptome, die einer offenen Gesellschaft nicht würdig sind. „Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet,“ lautet ein viel zitierter und über die Zeiten hinaus gültiger Satz von George Orwell, „dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ Die momentane Stimmung in Deutschland belegt, dass Besorgnis erregende Merkmale der Unfreiheit auch ganz ohne staatliche Lenkung aufkommen können. Und die populären Medien spielen keine gute Rolle dabei. Ihre selektive Berichterstattung macht sie zu einem Teil des Problems.

Die Gefahr dabei ist nicht, dass „FridaysForFuture“ nach der Diskurshoheit auch noch die politische Macht übernimmt. Sondern, dass genau die Kräfte davon profitieren, die heute von vielen Journalisten, Politikern und Industriebossen als Hintermänner jeglicher Kritik an der Energiewende dargestellt werden. Die Einseitigkeit und die Schlagseite des öffentlichen Sprechens ist so eindeutig und für jeden halbwegs gebildeten Menschen so leicht durchschaubar, dass viele genervt nach Alternativen suchen. Und finden sie vermeintlich bei jenen, die statt Klimapanik Angst vor „Umvolkung“ anbieten. Wer keinen gefestigten politische Kompass hat, wird leichte Beute der Rechtspopulisten.

Es müsste doch in einer offenen Gesellschaft möglich sein, vernünftig über die Prognosen von IPCC und PIK zu sprechen, und insbesondere über die Annahmen, die ihnen zugrunde liegen. Es müsste Journalisten doch auffallen und zum Nachdenken anregen, dass die Klima-Vorhersagen der 80er- und 90er-Jahre falsch lagen. Wäre eingetroffen, was seriöse Quellen wie die UNEP und Politiker wie Al Gore vor Jahrzehnten prophezeiten, dann wäre die Südseeinseln und die Malediven längst im Meer versunken, der Nordpol abgeschmolzen. Stattdessen ergibt sich heute ein gemischtes Bild: Das Nordpoleis zieht sich zurück, viele Gletscher schmelzen, es gibt mehr warme Tage im Jahr, der Meerspiegel steigt. Andererseits ist die vorausgesagte Zunahme von Wirbelstürmen, Dürren und Waldbränden ausgeblieben, wie die Statistik belegt. Das Meer steigt im erdgeschichtlichen Vergleich bisher recht moderat. Der rasante Anstieg des CO2 in der Luft hat außerdem nicht nur zu einer Erwärmung geführt, sondern zu einer erheblichen Zunahme des Pflanzenwuchses weltweit, wie Satellitenbilder belegen: Die Erde wird grüner. Doch solche widersprüchlichen Befunde werden in Zeitungsartikeln, Talkshows und Politikerreden fast nie erwähnt. Stattdessen diskutiert man über Prognosen so als seien es messbare Tatsachen. Statt einzuordnen, was für und was gegen das Eintreffen der düsteren Vorhersagen spricht, ist ein gefühlter Weltuntergang zum beherrschenden Thema geworden, der einen Teil der Mittelschichtsjugend in den reichen Ländern in Angst versetzt.

Die gute Nachricht lautet, die momentane Hysterie muss nicht von Dauer sein. Wie man an ähnlichen Wellen gesehen hat (Waldsterben, Nachrüstung, Tschernobyl, BSE, usw.) ermüdet jede Massenpanik irgendwann. Fragt sich nur, ob diese Regel im Zeitalter der Social Media weiterhin gilt. In einer Demokratie ist es möglich, nach einer Zeit der Dauerempörung und Ausgrenzung wieder zum zivilisierten Umgang zurückzufinden. Man muss dafür keinen Diktator stürzen.

Zuerst erschienen auf salonkolumnisten.com