Das Buch „Einmal Freiheit und zurück“ versammelt 35 Briefe an meine Kinder, in denen es um den gesellschaftlichen Wandel zwischen meinem Gestern und ihrem Heute geht. Dies ist der Text des Briefes Nummer 1 mit dem Thema „Wie alles anders wurde“…
Liebe Amelie, lieber Moritz,
dieses Buch versammelt Briefe, die ich in den Jahren 2022 und 2023 an euch geschrieben habe – jedoch nicht abgeschickt. Ich versuche darin zu beschreiben, wie sich der Zeitgeist und das Lebensgefühl zwischen meinem Gestern und eurem Heute verändert hat. Ihr seid im gleichen Land aufgewachsen wie ich, aber in einer anderen Welt. Es sind Briefe über die Umwälzung nahezu aller Bereiche des Lebens. Ein bisschen persönlich, aber nicht sehr. Denn mich interessiert das Gemeinsame meiner und eurer Generation. Von den Abenteuern, Desastern, Enttäuschungen und Glücksmomenten meines Lebens erzähle ich, wenn wir bei Bier oder Wein zusammensitzen – das kennt ihr ja. In diesen Briefen soll es nicht um biographische Zufälligkeiten gehen, sondern um die gesellschaftlichen Veränderungen, denen wir unterworfen sind und die wir gleichzeitig mitgestalten.
Ihr gehört zu der Alterskohorte, die »Millennials« oder auch »Generation Y« genannt wird, ich zu den »Babyboomern«. So wie ich staune, wenn ich von Menschen früherer Jahrhunderte lese, wie sie dachten und fühlten, wie sie die Welt betrachteten, was sie für bedeutsam und was sie für nebensächlich hielten, so möchte ich euch vermitteln, welche Denkweisen und welches Lebensgefühl mich und viele meiner Genration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten. Es ist beim Zurückblicken nicht immer einfach, Bedeutendes und nachhaltig Wirkendes zwischen den vielen folgenlosen Hypes und flüchtigen Moden zu identifizieren. Was war über den Tag hinaus wichtig? Was war vielleicht nur für mich besonders wichtig?
Ich wurde 1956 geboren, in einem Jahr voller folgenreicher historischer Ereignisse. Auf dem 20. Parteitag der KPdSU sprach der neue Parteichef Nikita Chruschtschow erstmals über die Verbrechen Stalins und legte sie teilweise offen. Die Zeit des staatlichen Massenmordens in der UdSSR war damit vorüber. Die Ungarn erhoben sich gegen die sowjetischen Besatzer und wurden blutig niedergeschlagen. Auf Kuba zettelte Fidel Castro eine Revolution an. Der Algerienkrieg erschütterte Frankreich. In Westdeutschland wurde die Wehrpflicht eingeführt und die KPD verboten. Die erste Bild-Zeitung erschien und das Fernsehen sendete erstmals einen Werbespot (für Persil). Dies ist nur eine winzige Auswahl aus den zahlreichen Marksteinen jenes Jahres. Ein Ereignis möchte ich hervorheben. Bei einem Auftritt am 5. Juni 1956 sang Elvis Presley »Hound Dog« und bewegte dabei sein Becken, was die jungen Fans begeisterte. Es folgte ein Sturm der Entrüstung in den Medien. Kirchenvertreter und Elternorganisationen verdammten diesen Hüftschwung als Sittenverfall und den Sänger als Verderber der Jugend. Der Aufruhr um den Hüftschwung war eines der ersten Signale, die den kulturellen Wandel ankündigten, in den ich hineingeboren wurde: eine Lockerungsübung, auf die viele weitere folgten.
Seit ein paar Jahren habe ich den Eindruck, dass die da- mals aufkommende gesellschaftliche Entspannung in vie- len Bereichen rückgängig gemacht wird. Es gibt wieder mehr Tabus, die Etikette wird strikter, die Sitten werden rigider, vieles soll nicht mehr gesagt werden dürfen, und viele fühlen sich ständig beleidigt. Bei jeder Gelegenheit wird nach Verzicht und Einschränkung gerufen. Schließt sich da ein Kreis? Sind die verbotsverliebten Anstandstanten und Saubermänner von einst als hippe Neospießer auferstanden? Wie ein Symbol der gesellschaftlichen Regression kam in den 2010er-Jahren ein Männerhaarschnitt in Mode, der 50 Jahre zuvor die Frisur der Langweiler war: heute Undercut genannt, damals Fassonschnitt.
Beim Kopfschütteln über diese Wiederkehr der verlogenen Nachkriegs-Biederkeit sollte man jedoch nicht vergessen, dass es Unterschiede gibt zu den 1950er- und frühen 1960er-Jahren. Damals hatten die Kirchen – insbesondere die katholische – die moralische Lufthoheit. Der Kampf gegen selbstständiges Denken und Lebenslust wurde von oben geführt, von alten Männern, die überall Verfall, Sittenlosigkeit und Anarchie witterten. Die neuen Tabuwächter kommen zum Großteil aus dem Kulturbetrieb und den Geisteswissenschaften, ihre Truppen rekrutieren sie aus der akademischen Jugend. Sie versuchen ein allumfassen- des gesellschaftliches Regelwerk zu etablieren, das alle rauen Seiten menschlichen Miteinanders ausschließt. Niemand solle mehr etwas sagen oder tun, das bei einem anderen ein schlechtes Gefühl auslösen könnte. Sie meinen es gut.
Meine Auswahl der Wandlungsprozesse kann nur subjektiv sein und ist stark beeinflusst durch meinen Lebenslauf. Das Wirtschaftswunderglück einer stinknormalen kleinbürgerlichen Familie prägte meine Kindheit, die hedonistische, links-antiautoritäre Szene Frankfurts meine Jugend. Als junger Erwachsener begeisterte ich mich für die entstehende grüne Bewegung, die sich bald zu einer Partei mauserte. Mein journalistisches Berufsleben fokus- sierte sich auf die Themenfelder Wissenschaft und Gesellschaft, Umwelt und Natur. Selbstverständlich prägte dieser spezielle Werdegang meine Sichtweise. Dennoch ist vieles an meiner Wahrnehmung typisch für meine Generation und wurde von anderen ähnlich empfunden. Ihr sollt euch durch diese Briefe animiert fühlen, eure Gegenwart mit meiner entschwundenen Vergangenheit zu vergleichen – und ein Gefühl dafür bekommen, wie schnell die Welt sich wandelt, das Neue zum Normalen und die Minderheit zur Mehrheit wird.
Das Besondere an der eigenen Gegenwart zu erkennen ist furchtbar schwer. Weil man mittendrin steckt und nicht weiß, wie sich die aktuellen Trends in der Zukunft auswirken werden. Zwischen schnellem Verpuffen und einer Zeitenwende ist immer alles drin. Wie stark das Leben sich auch in ruhigen Zeiten verändert, merkt man meist erst in der Rückschau.
Alt sein hat auch Vorteile. Einer davon ist die Erkenntnis, dass sich die Gesellschaft schneller wandelt, als man es in jungen Jahren für möglich hielt. Mit zwölf erschien mir die Welt der Erwachsenen verstaubt, erstarrt, selbstzufrieden. Kanzler Kiesinger ein alter Exnazi, die Lehrer Kriegsversehrte, überall gelbe Verbotsschilder und Hausmeistergesinnung. Nichts bewegte sich. Nur eine Revolution konnte dieses Gefängnis aus Schweigen, Konventionen und Langeweile sprengen.
Pünktlich zu meiner Pubertät kam die Revolution. Glücklicherweise war es keine wirkliche Revolution. Sondern lediglich ein kultureller Tumult, der die Jugend in den Industrieländern erfasst hatte. Neue Musikstile, Drogen, Aufbegehren gegen sexuelle Tabus, extravagante Kleider- und Haarmoden und die Lust an Regelverstößen er- schreckten die Kriegsgeneration, die in Ruhe ihren gerade erst erworbenen Wohlstand genießen wollte. Eltern und Lehrer waren entsetzt und verwechselten das Geschehen ebenfalls mit einer Revolution. Manche reagierten aggressiv, was uns das Gefühl gab, bedeutend zu sein.
Doch auch ohne Revolution veränderte sich das vermeintlich erstarrte Westdeutschland. Kaum etwas blieb so, wie es war. Sprache, Sexualität, Ernährung, Arbeit, Kon- sum, Alltagskultur und Religiosität wandelten sich gründlich. Eltern und Kinder, Frauen und Männer, Mehrheiten und Minderheiten, Einheimische und Migranten, Bürger und Behörden gehen im 21. Jahrhundert völlig anders miteinander um als damals. Auch die Älteren gewöhnten sich an das Neue. Es wurde normal. Vieles, was heute ganz selbstverständlich zum Alltag gehört, war Mitte des 20. Jahrhunderts undenkbar. Orte wie Dar-es-Salam oder Kuala Lumpur lagen für meine Oma Klara im Reich der Fantasie. Weiter weg als der Mond, den man ja immerhin sehen konnte. Heute gehören die beiden Städte zum Standardangebot der Reiseportale im Internet.
Ich schreibe diese Briefe in einer Zeit radikalen Wandels. In den Jahren 2020 bis 2023 wurde vieles erschüttert, was lange Zeit als sicher galt: globale Covid-19-Pandemie, Putins Krieg gegen die Ukraine, der Sieg der Islamisten in Afghanistan, die heftigste Inflation seit 70 Jahren. Die ökonomische Globalisierung, die jahrzehntelang weltweit Wohlstand brachte, wird rückgängig gemacht. Staaten schotten sich wieder ab und setzen vermehrt auf Binnenwirtschaft. Häufig liest man jetzt das Wort »Zeitenwende«. Für meine Generation ist das ziemlich viel auf einmal. Zwar erwarteten wir ständig Katastrophen – hatten uns aber still und heimlich daran gewöhnt, dass sie nie eintrafen.
Doch auch in den langen ruhigen Zeiten (die zumindest in Westeuropa als ruhig empfunden wurden) blieb kaum etwas, wie es war. Vermutlich ähnelte das Deutschland meines Geburtsjahres mehr der Vorkriegszeit als dem Deutschland des 21. Jahrhunderts. Man erinnert sich an den gesellschaftlichen Wandel, wenn die Kinder Fragen stellen. Ich musste euch einmal erklären, was ein »uneheliches Kind« ist, ein Begriff, den ihr in einem Film aufgeschnappt hattet. Während ich es erläuterte, wurde mir klar, dass das Konzept »unehelich« für euch und eure Altersgenossinnen keinen Sinn mehr ergibt. Einst geläufige Bezeichnungen sozialer Distinktion wie »Mischehe« oder »Fräulein« sind für euch so exotisch wie die Stammesriten der Kelten.
Große Literaten haben den Geist ihrer Zeit für spätere Generationen sichtbar gemacht, indem sie beschrieben, wie dieser ihr persönliches Leben prägte – auch dann, wenn sie gegen ihn standen. Montaignes »Essays«, Zweigs »Die Welt von gestern«, Manès Sperbers Autobiographie »All das Vergangene« oder dem »Nachruf«, den Ludwig Marcuse auf sich selbst verfasste, gelingt es, das Denken und Fühlen vergangener Epochen lebendig werden zu lassen. Wissenschaftler wie der Soziologe Andreas Reckwitz und der Historiker Philipp Sarasin haben den fundamentalen gesellschaftlichen Umbruch zwischen der kollektivistischen Moderne des 20. Jahrhunderts und den individuellen Lebenswelten des 21. analysiert. Ich bin we- der Literat noch Wissenschaftler, sondern ein journalistisch geschulter Beobachter, der versucht, die Welt, die ihn umgibt, so gut er kann zu verstehen. Sollte es mir gelingen, euch Kultur, Mode, Werte, Denkmuster, Sitten, Symbole und Ängste meiner Vergangenheit ein bisschen verständlicher zu machen, hätten diese Briefe ihren Sinn erfüllt.
Die Generation der Babyboomer, zu der ich gehöre, um- fasst die zwischen Mitte der 1950er-Jahre und Mitte der 1960er-Jahre Geborenen. Die erste Generation von (West-)Deutschen, die Frieden, Freiheit und Wohlstand als Dauerzustand kennenlernte. Unsere Lebenszeit fiel in die glücklichste Epoche der deutschen Geschichte. Gerade jetzt, während ein furchtbarer Krieg in Europa geführt wird, in einem nicht weit entfernten Land, das im Zweiten Weltkrieg von Deutschen zerstört wurde, bemerken viele, wie friedlich ihr Leben verlief. Unsere Eltern und Großeltern hatten das 20. Jahrhundert von einer ganz anderen Seite erlebt: die meisten der Väter als besiegte Soldaten, manche Mütter in Bombenkellern oder auf der Flucht. Die meisten aus der Elterngeneration waren überzeugte oder opportunistische Anhänger Hitlers. Es gab auch – wenige – andere, die den Nationalsozialismus in Konzentrationslagern oder Verstecken überlebt hatten. Wovon die Mehrheit der Deutschen danach nichts hören wollte. Darüber geredet wurde kaum, in vielen Familien nie. Der Krieg, die Lager, die Todesfabriken, die Vertreibungen waren als dunkler Hintergrund präsent, der für uns Kinder nebelhaft blieb. Dass ich in einer völlig anderen Welt lebte als meine Eltern und Großeltern, spürte ich schon als Kind – und auch, dass meine Welt eine glücklichere war. Der Krieg und der Völkermord an den europäischen Juden waren der große Graben zwischen den Alten und den Jungen.
Frage ich meine Altersgenossen, was sich in unserem Leben gewandelt hat, antworten viele: Digitalisierung. Wie sehr Computer und Internet vieles veränderten, ist den meisten bewusst. Dass fürs Musikhören physische Tonträger überflüssig wurden und das Smartphone als multifunktionales Hilfsmittel zum Alltag gehört, sind Smalltalk-Themen der Alten. Ganz anders verhält es sich bei den sozialen und kulturellen Veränderungen, die sich teilweise aus den neuen technischen Möglichkeiten ergaben, aber auch unabhängig davon stattfanden. Da muss ich meistens gezielt nachbohren, um sie ins Bewusstsein zu rufen. Die Nicht-Wahrnehmung gesellschaftlichen Wandels gleicht der Nicht-Wahrnehmung schleichender Veränderungen im Privaten. Eines Tages wird dir klar, dass deine Ehe zerrüttet ist. Aber seit wann genau ist sie das? Wie ist es eigentlich dazu gekommen? Und warum hast du es nicht früher gemerkt? Wandel verläuft selten so deutlich und begleitet von bedeutungsschweren Dialogen wie im Film. Oftmals gibt es nicht das eine Ereignis, durch das alles plötzlich anders wird, sondern viele kleine Episoden, die ganz nebenbei passieren. Diese Briefe sind ein Versuch, diesen vielen kleinen Veränderungen nachzuspüren, um den großen und oftmals unterschätzten Wandel für euch sichtbarer zu machen. Wir sehen ihn meist nicht, weil wir selbst ein Teil von ihm sind.
Euer Papa