Die Dauerempörung über alles, was nicht hundertprozentig woke und grün ist, hat zum Gegenteil des Beabsichtigten geführt. Das zeigt der Fall Aiwanger exemplarisch. Den Gesinnungswächtern entgleitet die moralische Lufthoheit.
Geld und Moral haben Gemeinsamkeiten. In einer Inflation werden die Zahlen auf den Banknoten immer größer, aber das Papiergeld verliert dennoch an Wert. Ähnlich verhält es sich, wenn die Zahl moralischen Belehrungen immer weiter zunimmt. Je mehr Zeigefinger, desto geringer ihre Wirkung.
Die Sympathie, die Hubert Aiwanger in Form immer besserer Umfragewerte zufliegt, mag teilweise auf menschlichem Mitgefühl beruhen. Man solidarisiert sich mit einem, dem nach mehr als drei Jahrzehnten jugendliche Verfehlungen vorgeworfen werden. Aber es gibt noch einen anderen Impuls für den anschwellenden Applaus: Der Überdruss an den Gesinnungswächtern in Medien und Politik. Viele Menschen möchten „denen da oben“ zeigen, wie egal ihnen deren Anstandsregeln sind.
Das jahrzehntelange Bemühen, Antisemitismus und Beschönigung der NS-Zeit zu ächten, läuft ins Leere. Der alte Ruf nach einem Schlussstrich ertönt wieder häufiger. Das hat viele Ursachen. Nationalsozialismus und Völkermord an den Juden Europas ist für die Jüngeren so weit entfernt wie Karl der Große. Die Warnungen vor Antisemitismus empfinden viele als Pfaffengeschwätz der Eliten. Warum diese Aufregung über längst Vergangenes, fragen nicht nur AfD-Anhänger. Die meisten Deutschen lernen ihr ganzes Leben lang keinen einzigen Juden kennen. Juden werden als Leute aus dem Fernsehen wahrgenommen, die nerven, weil sie ständig was zu meckern haben. Und obendrein gibt es, wie diverse Umfragen belegen, einen stabilen zweistelligen Prozentsatz mit klar antisemitischer Gesinnung. Darauf aufbauend, versuchen die Höckes, Gaulands und Weidels mit semantischer Salamitaktik Geschichtsrevisionismus normal erscheinen zu lassen.
Dass es so weit kam, ist aber nicht allein das Werk der AfD-Demagogen. Auch die woken Diskurs-Hausmeister in den Social- und anderen Medien waren daran beteiligt. Auch sie haben fleißig dazu beigetragen, Antisemitismus und Rassismus zu relativieren. „Misgendern“ ruft bei ihnen die gleiche Empörung hervor, wie antisemitische Hetze. Zweifel am Weltuntergang durch den Klimawandel werden als Hassverbrechen gewertet. Die Aussage, es gibt zwei Geschlechter, wird als Naziideologie denunziert. Wenn jeder Gedanke, der den geistigen Tellerrand evangelischer Kirchentage überschreitet, als verwerflich gilt, dann hören mit der Zeit immer weniger Menschen zu. Das Publikum gewöhnt sich an die Reflexe der Dauerempörten und nimmt sie nicht mehr ernst. Sie werden zum Hintergrundgeräuschen, wie Verkehrslärm und Kirchenglocken. Stets maximal laute Empörung führt unweigerlich zur Nivellierung der Moral. Alles gleich schlimm. Alles egal. Warum nicht mal einen Populisten mit rechter Schlagseite wählen?
Vielleicht würde es helfen, Empörung aufzusparen für die wirklich schlimmen Fälle und nicht auf jeden Unsinn in den Social Media so zu reagieren, als würde der Reichstag brennen. Mal einen Gang runterschalten, und nicht gleich bei jeder Übertretung grün-woker Benimmregeln „Nazi!“ rufen. Nicht immer gleich predigen, sondern argumentieren. Gerade jüngere Menschen reagieren – zurecht – skeptisch auf Sprechverbote und Tabus. Man muss sich schon die Arbeit machen und erklären, was an den Behauptungen von Geschichtsrevisionisten und Antisemiten falsch ist – möglichst sachlich und faktenreich. Sätze wie „So etwas sagt man nicht“, oder „das ist rechtsradikal“ verraten Denkfaulheit. Ihre Wirkung verfällt wie Papiergeld in einer Hyperinflation.