100.000 Jahre ohne Sex

Von Michael Miersch

Amazonenkärpflinge (Poecilia formosa) sind eine kleiner Guppy-ähnli­che Fischart aus Nordamerika, die zu 100 Prozent weiblich ist und sich durch Jungfernzeugung vermehrt. Die Töchter entwickeln sich aus unbefruchteten Eiern, sind somit Klone ihrer Mütter. Eigentlich müssten sie ausgestorben sein, denn evolutionär betrachtet hat Klonen gegenüber der sexuellen Fortpflanzung zwei Nachteile. In jedem Erbgut treten irgendwann Fehler auf. Wenn das Genom stets gleichbleibt und nicht aufgefrischt wird, kommen über die Generationen immer neue Erbfehler hinzu, bis es irgendwann keine gesunden Individuen mehr gibt. Außerdem können sich Klone wegen der mangelnder Neukombination ihres Erbguts nicht so schnell an veränderte Umweltbedingungen anpassen. Vermutlich deshalb gibt es sehr wenige Wirbeltierarten, die sich durch Jungfernzeugung vermehren – so zumindest die Theorie. Doch die Amazonenkärpflinge überleben bereits seit über 100.000 Jahren. Jetzt haben Forscherinnen und Forscher des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei herausgefunden, warum die Fischchen so lange auch ohne Gen-Auffrischung durch Sex überleben konnten (Pressemitteilung des IGB vom 11.2.2021). Amazonenkärpflinge sind Hybride, die aus der Verpaarung zweier Arten entstanden sind. Das beutet, jedes Weibchen trägt zwei Garnituren DNA in sich, aus denen es sich wechselweise bedienen kann.

Anders als in der Physik oder Mathematik gibt es in der Biologie keine Regel ohne Ausnahme. Das Leben richtet sich nicht nach starren Formeln, weder beim Amazonenkärpfling noch beim SARS-CoV-2-Virus, noch beim Menschen.