Gestern brachte die Post Abdulrazak Gurnahs Buch „Das verlorene Paradies“, das ich bei „Eichendorff 21“ (sehr zu empfehlen!) bestellt hatte. Beim Durchblättern entdeckte ich eine „Editorische Notiz“. Sie weist Leserinnern und Leser darauf hin, dass in diesem Roman Menschen als „Wilde“, „Eingeborene“ oder „Kaffer“ bezeichnet werden. Es folgt die Erklärung, dass dies „in der Regel Figurenrede“ sei, also fiktive Romanfiguren so sprächen. In einigen Fällen benutze auch der Erzähler die Sprache der Zeit, in der die handelnden Figuren verankert sind (der Roman beginnt im 19. Jahrhundert). Es folgt der Hinweis, dass dem Verlag bewusst ist, wie problematisch dies sei.
Ich hatte also nochmal Glück gehabt. Ohne die „Editorische Notiz“ wäre ich beim Lesen von Gurnahs Buch womöglich Rassist geworden.
Spaß beiseite. Nachdem sich mein Erstaunen gelegt hatte, fiel mir ein anderes Buch ein. Irgendwann, als es die DDR noch gab, hatte ich mir in Ostberlin „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ von John Reed gekauft. Das weltberühmte Buch, eine Reportage über die Ereignisse 1917 in Russland, war ein kniffliges Problem für die Diktatur. Denn da es schon 1919 erschienen war und damals auch im Westen verbreitet, konnte man es weder still und heimlich umschreiben noch verbieten, wie so viele andere Bücher. Man hätte ja im Westen eine manipulierte Fassung mit dem Original von 1919 vergleichen können. Außerdem gab es auch noch ein Vorwort von Lenin, der im sowjetischen Machtbereich posthum als Heiliger gepriesen wurde. Das Ministerium für Kultur löste das Problem, indem es dem Buch ein langes editorische Nachwort anfügte. Darin erklärte die Partei den Leserinnen und Lesern, was es damit auf sich habe, dass in dem Buch Personen vorkommen, die in der DDR-Geschichtsschreibung gar nicht existierten, wie etwa Sinowjew oder Trotzki. John Reed habe diese Personen im Eifer des Gefechts falsch eingeschätzt, denn sie waren schon 1919 vollkommen unbedeutend und obendrein schändliche Verräter.
Natürlich ist der damalige Geschichtsrevisionismus nicht das Gleiche wie eine heutige Triggerwarnung. Dennoch fühlt man sich als Leser unangenehm berührt, wenn der Verlag einem schulmeisterhaft erläutert, wie man ein literarisches Werk zu verstehen habe.