Das Stalintrauma der DDR

Von Michael Miersch

Eine populäre Legende über die frühen Jahre der DDR geht so: Es sei eine Zeit des Idealismus gewesen. Aufrechte Antifaschisten traten an, um ein neues, besseres Deutschland zu erschaffen, eine friedliche, freundliche Republik. So erzählten es Gregor Gysi, Markus Wolf und andere nach 1989 in den Talkshows. Westliche Journalisten plapperten es beflissen nach und viele glauben bis heute daran.  Gemäß dieser Legende soll die DDR erst mit der Zeit der autoritäre Spitzelstaat geworden sein, der sie am Ende war.

Wer sich ein wenig mit DDR-Geschichte befasst weiß, nichts davon ist wahr. Die frühen Jahre waren die repressivsten. Tausende verschwanden in den später 40er- und frühen 50er-Jahren in Gefängnissen, in den wiedereröffneten NS-Konzentrationslagern, wurden in die Sowjetunion verschleppt und dort erschossen, oder in sibirische Arbeitslager verfrachtet. Größtenteils waren die Opfer dieses Staatsterrors keine Nazis, wie von den Hütern der Legende behauptet wird, sondern linke Antistalinisten, Sozialdemokraten und andere demokratische Oppositionelle.

Der Historiker Andreas Petersen schildert in seinem Buch „Die Moskauer“ die Männer, die die DDR gründeten: Ein eingeschworener Orden von Parteifunktionären um Ulbricht und Pieck.  Sie hatten im Moskauer Exil alle Linienschwenks Stalins ergeben bejubelt und die Säuberungen, bei denen mehr Kommunisten hingerichtet wurden als unter den Nazis, fanatisch unterstützten. Bei der Gründung der DDR traten sie in Konkurrenz mit kommunistischen KZ-Überlebenden, die in Buchenwald als „Funktionshäftlinge“ mit der SS kollaboriert hatten und als Helfer am Morden teilnahmen.

All dies war mir durch Literatur und Gespräche mir Zeitzeugen bekannt. Dennoch hat mich „Die Moskauer“ erschüttert.  Manche Abgründe werden einem erst richtig bewusst, wenn man sich auf die Detailebene begibt. Das Buch steckt voller Kurzbiographien, die die Vergangenheit der Moskauer Kader und ihrer Konkurrenten aus den Reihen der KZ-Überlebenden ausleuchten.

Wie tief die DDR-Gründer im Moskauer Exil gesunken waren, ist kaum zu fassen. Nicht nur, dass sie alle ihren Kopf retteten, indem sie Genossen und Freunde denunzierten (was für diese fast immer den Tod bedeutete). Viele von ihnen verloren engste Angehörige, Ehepartner, Kinder, Eltern, durch Stalins Mordmaschine, und blieben dennoch beinharte Stalinisten. Manche waren selbst jahrelang im Gulag, überlebten nur knapp und beteiligten sich danach in der DDR am Aufbau des neuen Unterdrückungsapparates. Nur sehr wenige sprachen oder schrieben je über das Erlebte – selbst nach dem Zusammenbruch der DDR. Die meisten schwiegen eisern ihr Leben lang. Einige schrieben Autobiographien, in denen sie die Jahre in der UdSSR nicht erwähnten oder Märchen über die schöne Zeit im Vaterland des Sozialismus erzählten. Bei manchen ging es so weit, dass sie ihre in Moskau ermordeten Angehörigen zu Naziopfern umdichteten.

Ein Buch, das jeder lesen sollte, der sich für die Geschichte der DDR interessiert. Selten wurden die Jahre vor dem Mauerbau so kenntnisreich ausgeleuchtet. Es waren die prägenden Jahre.

Andreas Petersen: Die Moskauer, S. Fischer Verlag Frankfurt, 368 Seiten