Auf dem Parteitag der Grünen blickte die prominente Publizistin Carolin Emcke in die Zukunft. „Die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt wird bleiben,“ prophezeite sie. Die Leidtragenden würden künftig jedoch nicht Juden sein, sondern Klimaforscherinnen. Emckes düstere Vorhersage steht in einer langen Reihe von Bemühungen, alle möglichen Gruppen zu verfolgten Minderheiten zu erklären. Mal liest man, die Muslimen würden im heutigen Deutschland so diskriminiert, wie einst die Juden im NS-Staat. Mal ist es die sogenannte Querdenken-Bewegung, die sich selbst mit den Opfern der Shoa gleichsetzt und deren Anhänger sich gelbe Sterne an die Heldenbrust kleben. Dass solche Versuche Opferstatus zu erlangen komplett realitätsfern sind und millionenfachen Mord an wehrlosen Zivilisten verharmlosen, wurde schon bald nach Emckes Vortrag vielfach und zu Recht kritisiert.
Der Satz über die angeblich von „Ressentiment und Gewalt“ bedrohten Klimaforscher ist jedoch noch in zweiter Hinsicht falsch. Denn die von Frau Emcke ausgemachte Opfergruppe ist das genaue Gegenteil einer verfolgten Minderheit. Klimaforscher sonnen sich seit Jahrzehnten im Glanz allgemeiner Aufmerksamkeit und Bewunderung. Ihre Institute werden mit Geld überschüttet. Zumindest gilt das für den Teil der Klimaforscher, der die Gesellschaft mit populären apokalyptischen Prognosen versorgt. Wer heute als Wissenschaftler eine Karriere anstrebt, macht am besten irgendwas mit Klima. Die Industrien, die von der Energiewende profitieren, geht es prächtig. Ob Siemens oder BMW, Papst oder Popstar: Alle wollen das Klima retten. Damit auch die Kleinsten beim Klimaretten mitmachen, gab es eine Zeitlang sogar Schulfrei an Freitagen. Wo die Parallele zwischen dem heutigen gesellschaftlichen Status von Klimaforschern und der Judenverfolgung liegt, bleibt wohl Frau Emckes Geheimnis.
Allerdings gab es in den vergangenen Jahren in Deutschland Fälle, wo Kritiker der Klimapolitik abgestraft wurden, indem sie ihre Jobs verloren oder von Staatsorganen denunziert wurden. Diese scheint Frau Emcke aber nicht zu meinen
Pflege und Ausbau eines anerkannten Opferstatus ist Ziel aller Lobbyisten. Jeder Rechtsanwalt erklärt seinen Mandanten zum Opfer der Gesellschaft. Das Werk von Terroristen oder Amokläufern wird reflexhaft als „Hilfeschrei“ eines Erniedrigten und Beleidigten interpretiert. Eine beliebte Phrase von Nahost-Kommentatoren lautet, die Palästinenser seien Opfer der Opfer. Demnach sind diskriminierte palästinensische Frauen Opfer der Opfer der Opfer. Wer keinen Opferstatus erobert, macht etwas falsch und wird es zu nichts bringen. Die Armen sind Hartz-IV-Opfer, die Reichen Opfer einer unfairen Neiddebatte. Industrie und Landwirtschaft sind Globalisierungsopfer und wer nicht hierzulande geboren wurde, ist automatisch Diskriminierungsopfer. Und wir alle sind Opfer unserer Erziehung.
Wer Erfolg haben will, macht sich klein und erregt Mitleid. Das haben auch die Mächtigen und Privilegierten entdeckt, die längst nicht mehr mit ihren Insignien protzen, sondern sich als Verfolgte präsentieren. Wladimir Putin barmt, dass die imperialistische NATO ihn umzingeln und bedrohen würde. Donald Trump stellte sich selbst gern als Opfer linker Medienmacht dar. Ob AfD oder ADAC, ob Bischof oder Konzernboss, alle sind sie Opfer von Irgendwem und bitten uns um Hilfe.
Im Gegensatz zum umfassenden Opferkult berichten Menschen, denen tatsächlich Furchtbares widerfuhr, oftmals, dass kaum einer etwas von ihrem Schicksal hören wollte. So erging es vielen KZ-Überlebenden in den ersten zwanzig Jahren nach 1945. Und heute müssen sich DDR-Bürgerrechtler anhören, dass sie nervig und nachtragend sind. Auch Opfer von krimineller Gewalt kennen dieses Phänomen, sofern ihr Schicksal nicht in Raster einer aktiven Lobby-Gruppe passt.