Fußgängerunterführung München

Fußgängerunterführung in München (Foto: M. Miersch)

Früher war das Wetter auch schon früher besser

Von Gastautor Thomas Petersen

Eine kleine Geschichte des Kulturpessimismus in der Bundesrepublik Deutschland, nachgezeichnet anhand der Bevölkerungsumfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach*

„Kulturpessimismus“ ist ein schwer fassbarer, schwer zu definierender und sicherlich kein wissenschaftlich exakter Begriff, doch er bezeichnet etwas, was man mit keinem anderen Wort beschreiben kann, und das man meint, im Alltag in der Gesellschaft, in der Medienberichterstattung und in persönlichen Gesprächen, oft zu beobachten: Die Überzeugung, die Bildung, die guten Sitten, die öffentliche Moral, gleich das ganze Land oder gar die ganze Welt seien in einem Niedergang begriffen. Besonders sorge die moderne Zivilisation dafür, dass die Menschen abstumpften und ihren Sinn für das Schöne, Edle, Erhabene verlören. Es steckt oft eine selbstzweiflerische, aber gleichzeitig auch hochmütige Attitüde dahinter, denn derjenige, der die kulturpessimistische Position einnimmt, stellt sich gleichzeitig über sie: Die Menschen würden immer dümmer und sittenloser, man selbst sei davon natürlich nicht betroffen, beobachte und beklage dies aber.

Solche kulturpessimistischen Denkmuster ziehen sich durch die ganze Geschichte. Das Klischee von der (spät-)römischen Dekadenz ist bis heute weit verbreitet und doch letztlich höchstwahrscheinlich nur ein spätes Echo der den damaligen Zeitgeist geschickt ausnutzenden Propaganda des ersten Kaisers Augustus. Besonders das 19. Jahrhundert war anscheinend anfällig für Niedergangsvorstellungen, vielleicht auch als Gegenbewegung zur Betonung des Fortschritts durch die Nutzung des Verstandes durch die Aufklärer des 18. Jahrhunderts und vor allem wohl auch als Reaktion auf die rasante technische Entwicklung jener Zeit. Kulturpessimistische Elemente finden sich in den Theorien der marxistisch geprägten Linken ebenso wie bei bürgerlichen Philosophen. Friedrich Nietzsche stand mit seiner Ansicht nicht allein, als er schrieb: „Die Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Kultur ist so groß geworden, dass eine Überreizung der Nerven- und Denkkräfte die allgemeine Gefahr ist, ja dass die kultivierten Klassen der europäischen Länder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer größeren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahegerückt ist.“ Das Argumentationsmuster, wonach die moderne Zivilisation das Leben immer komplizierter mache, die Kultur zerstöre und den Niedergang der Gesellschaft befördere, findet sich mal mehr mal weniger ausgeprägt in den meisten großen politischen Bewegungen und weltanschaulichen Konzepten der folgenden Jahrzehnte bis heute. Das gilt für demokratische wie nichtdemokratische Weltbilder. Man kann die Gedankenlinie in Habermas‘ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ ebenso finden wie, zumindest latent im Hintergrund mitschwingend, in der bürgerlichen Kritik am gesellschaftlichen Wertewandel der 1970er- und 80er-Jahre. Sie durchzieht die nationalsozialistische Ideologie ebenso wie die Ökologiebewegung und die rechtspopulistischen Bewegungen der jüngsten Zeit („Deutschland schafft sich ab“). Wenn heute in der staatlichen russischen Propaganda vom „verweichlichten Westen“ die Rede ist, klingt dieses Motiv ebenso an, wie in der linken Konsumkritik. Oft geht eine kulturpessimistische Haltung mit ausgeprägter Technikskepsis einher. Die Klage über eine „naiven Technikgläubigkeit“ ist ein fester Bestandteil der intellektuellen Gesellschaftskritik. Auf manchen Gebieten droht gar die gesellschaftliche Isolation, wenn man nicht eine pessimistische Perspektive einnimmt. Anfang 2020 schrieb der Wissenschaftsjournalist David Böcking im „Spiegel“ mit Blick auf eine Rede des amerikanischen Präsidenten unter Verweis auf den Klimawandel von „perversem Optimismus“.

Es wird oft behauptet, dass eine kulturpessimistische Grundhaltung ein besonderes Merkmal der deutschen Gesellschaft sei. Der Historiker Fritz Stern hat mit Recht darauf hingewiesen, dass es in den 1920er und 30er-Jahren in vielen Ländern verbreitetes Unbehagen an den demokratischen Institutionen gegeben habe, aber anders als in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten schlug in Deutschland die Kritik an den politischen Zuständen in eine fundamentale Ablehnung des freiheitlichen Systems um. Stern macht die kulturpessimistische Attitüde vieler Deutscher als Ursache für diese Entwicklung mitverantwortlich.

Doch stimmt das eigentlich? Ist die Grundhaltung der Deutschen tatsächlich so sehr von Kulturpessimismus geprägt, wie man angesichts mancher öffentlichen Debatte vermuten könnte, oder handelt es sich eher um ein auf intellektuelle Kreise begrenztes Phänomen? Und wenn Kulturpessimismus das Meinungsklima in Deutschland bestimmt, ist dies wirklich eine spezifische deutsche Besonderheit, oder sind in anderen Ländern ähnliche Tendenzen zu beobachten? Gib es vielleicht Konjunkturen des Kulturpessimismus, oder handelt es sich um einen mehr oder weniger konstanten Zustand? Diese Fragen dürften kaum endgültig zu beantworten sein, doch mit Hilfe der Ergebnisse der Umfrageforschung lassen sich zumindest einige Hinweise finden, die bei der Beantwortung hilfreich sein können. Eine interessante Quelle sind hierfür die Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach, das gegründet im Jahr 1947, die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an mit Repräsentativumfragen begleitet hat und dabei eine Vielzahl von Informationen zu Mentalität und Sorgen der Bevölkerung, ihrer Werteorientierung und gesellschaftspolitischen Orientierung zusammengetragen hat. Sie deuten darauf hin, dass es durchaus gewisse Tendenzen zum Kulturpessimismus in der deutschen Bevölkerung zu geben scheint, und sie lassen auch mögliche Quellen hierfür erkennen. Die Umfragen bieten Indizien, keine Beweise. Sie sind nicht das Ergebnis einer einzigen großen wissenschaftlichen Schwerpunktuntersuchung zu diesem Thema, sondern es handelt sich um eine Vielzahl von Einzelbefunden, mehr oder weniger zufällig im Rahmen von Studien zu den verschiedensten Themen entstanden, ein Puzzlespiel, das aber immerhin erste Konturen einer Landkarte des Kulturpessimismus in Deutschland erkennen lassen. Im Folgenden werden einige dieser Ergebnisse vorgestellt und eingeordnet.

Zeichen des Niedergangs?

Die erste Frage, mit der man sich beschäftigen muss, wenn man die Neigung der Bevölkerung zum Kulturpessimismus untersucht, ist die Frage, ob eine solche Haltung denn objektiv berechtigt wäre. Immerhin wäre es theoretisch denkbar, dass es tatsächlich kulturelle und Wissensverluste in der Gesellschaft gibt. Der Gedanke ist nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Allein die Alterung der Gesellschaft als Folge der seit Jahrzehnten niedrigen Geburtenraten könnte sich hier niederschlagen. Auch die massiven Veränderungen im Mediennutzungsverhalten, die immer weiterwachsende Dominanz audiovisueller Medien auf Kosten des Lesens von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern könnten ein erheblicher Faktor sein. Hirnforscher haben schon vor Jahrzehnten herausgearbeitet, dass dies Auswirkungen auf die Ausbildung der intellektuellen Leistungsfähigkeit von Jugendlichen haben kann. Auch lassen kommunikationswissenschaftliche und kognitionspsychologische Theorien wie etwa das „Elaboration Likelihood Model“ (ELM) vermuten, dass sich mit der Veränderung des Mediennutzungsverhaltens auch die Art der Informationsverarbeitung verändert: Während die Zeitungslektüre die eher rationale Verarbeitung des Medieninhalts zu fördern scheint, werden audiovisuell präsentierte Medieninhalte eher „heuristisch“ verarbeitet, das heißt, die Präsentation führt eher dazu, dass Aufmerksamkeit erzeugt wird und die Eigenschaften der Person in den Mittelpunkt gerückt werden, die die Nachricht überbringt, während von der Botschaft selbst abgelenkt wird. Da liegt die Vermutung nahe, dass dies Auswirkungen auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Gesellschaft haben könnte.

Doch alles in allem deuten die Allensbacher Umfrageergebnisse nicht auf einen größeren kulturellen oder intellektuellen Substanzverlust hin. Es wird immer sehr schwierig sein, so etwas quantitativ zu erfassen, noch schwieriger ist es, es qualitativ einzuordnen, denn natürlich ändern sich die Wissensbestände und Kompetenzen einer Gesellschaft ständig, allein schon als Folge der technischen Entwicklung. Doch dort, wo ein Langzeitvergleich möglich ist, spricht wenig für einen Niedergang. So hat zwar im Laufe der 1980er- und 90er-Jahre die Konzentrationsfähigkeit der Gesamtbevölkerung abgenommen – gemessen mit einem Suchtest, bei dem die Befragten binnen einer Minute möglichst viele Fehler in einer Zeichnung finden sollten -, doch dieser Effekt war allein auf die Veränderung der Altersstruktur (und damit verbunden vermutlich der Sehfähigkeit) der Bevölkerung zurückzuführen. Innerhalb der jüngeren Altersgruppe gab es keine Veränderung, anders, als man angesichts der eben beschriebenen möglichen Auswirkungen des veränderten Mediennutzungsverhaltens hätte erwarten können.

Bei Wissenstests zeigen sich seit Jahrzehnten gleichbleibende Leistungen. Auf die  Frage „Hat Luther vor dem Dreißigjährigen Krieg gelebt oder nach dem Dreißigjährigen Krieg?“ gaben im Dezember 1957 54 Prozent der Befragten die richtige Antwort, im Juli 2019 waren es ebenfalls 54 Prozent. Die Aufgabe, aus einer Liste von 12 Ländern die fünf herauszusuchen, die in Afrika liegen, meisterten die Befragten im November 2008 etwas besser als im Juli 1982. Die Metamorphose eines Schmetterlings – Ei, Raupe, Puppe, Schmetterling – konnten im August 2017 sogar deutlich mehr Befragte (52 Prozent) vollständig beschreiben als im Juli 1998 (38 Prozent). Die kleine Rechenaufgabe 1/2 + 5/10 lösten im Dezember 1957 74 Prozent der Befragten richtig, im Juli 2019 waren es 78 Prozent. Man kann diese Ergebnisse durchaus als Beleg für Defizite im Schulsystem deuten, angesichts der Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten die Zahl der Bürger mit formal hohem Schulabschluss stark gestiegen ist, ohne dass sich dies in den Antworten auf Wissenstests nennenswert niederschlägt, aber von einer Erosion des Wissens bezogen auf die Gesamtbevölkerung kann zumindest bei diesen, zugegebenermaßen punktuellen, Wissenstests keine Rede sein. Wie sehr – und vor allem wie lange schon – aber gerade in Bezug auf solches Allgemeinwissen das Vorurteil eines Kulturverlusts verbreitet ist, illustriert die Formulierung einer Frage, bei der den Befragten die Abbildungen von vier Baumblättern – Eiche, Kastanie, Linde und Ahorn – vorgelegt wurden. Der Fragetext dieser zum ersten Mal im Jahr 1953 gestellten Frage lautet: „Die meisten Menschen können heutzutage kaum noch die Blätter der verschiedenen Bäume unterscheiden. Wenn Sie die vier Blätter hier ansehen – welche davon kennen Sie?“ Der Rückgang der Kenntnisse wurde also schon in der Formulierung als scheinbar gesichertes Wissen vorausgesetzt. Die Befragten aber identifizierten mit großen Mehrheiten zwischen 63 und 90 Prozent korrekt das Eichen-, Kastanien- und Lindenblatt und widerlegten damit den kulturpessimistisch formulierten Einleitungssatz. Lediglich beim Ahorn war die Leistung etwas schlechter (43 Prozent). Seitdem wurde die Frage dreimal wiederholt, zuletzt im Jahr 2008. Das Niveau des Wissens um die Baumblätter hatte sich in den dazwischenliegenden mehr als fünf Jahrzehnten nicht nennenswert verändert.

Auf einer anderen Ebene gab es im Verlauf der Geschichte der Bundesrepublik aber durchaus einen Niedergang von jahrhundertelang vorher gepflegten kulturellen Beständen, die man – je nach persönlichem Standpunkt – zwischenzeitlich durchaus als Verlust betrachten konnte, den sogenannten Wertewandel, eine starke Verschiebung gesellschaftlicher Normen, die Anfang der 1970er-Jahre entdeckt wurde. Eine Schlüsselrolle spielte dabei eine Frage, die zum ersten Mal im Jahr 1967 im Rahmen einer Allensbacher Repräsentativumfrage gestellt wurde. Sie lautete: „Wir haben einmal eine Liste zusammengestellt mit verschiedenen Forderungen, was man Kindern für ihr späteres Leben alles mit auf den Weg geben soll, was Kinder im Elternhaus lernen sollen. Was davon halten Sie für besonders wichtig?“ Dazu überreichen die Interviewer eine Liste mit einer Vielzahl von Punkten, die klassische bürgerliche Tugenden umfasste wie „Höflichkeit und gutes Benehmen“ oder „Sorgfalt, Dinge ordentlich und gewissenhaft tun“, aber auch Fragen der persönlichen Haltung wie „Achtung vor der Meinung anderer, Toleranz“ oder Lebensstrategien wie „Sich durchsetzen, sich nicht so leicht unterkriegen lassen“ oder „Gesunde Lebensweise.“ Die Ergebnisse wurden nicht besonders beachtet, es gab für die Frage auch keinen Auftraggeber, die Daten wanderten ins Archiv.

Fünf Jahre später aber, 1972, wurde die Frage erneut gestellt, und nun stellte man fest, dass sich die Ergebnisse bemerkenswert stark von denen unterschieden, die 1967 erhoben worden waren: Es zeigte sich das, was der Speyerer Sozialwissenschaftler Helmut Klages später den “Wertwandlungsschub” genannt hat: Binnen weniger Jahre war die Zustimmung zu dem, was 250 Jahre lang als bürgerliche Tugenden galt, deutlich gesunken. Der Abbau hatte sich in allen sozialen Schichten vollzogen und stets am radikalsten bei denen, die jünger waren als dreißig Jahre. Noch 1967 hatten immerhin 81 Prozent der Unter-Dreißigjährigen gesagt, Kinder sollten im Elternhaus Höflichkeit und gutes Benehmen lernen; 1972 waren es nur noch 50 Prozent. Im gleichen Zeitraum sank die Zustimmung zu der Aussage, man solle die Kinder dazu erziehen, ihre Arbeit ordentlich und gewissenhaft zu tun, von 71 auf 52 Prozent. In den folgenden Jahren zeigten auch andere Trendfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach, dass die Bevölkerung ihre Einstellung zu einer Vielzahl von Themen radikal geändert hatte, und zwar in der Politik, im Verhältnis zur Kirche und in den Normen, ganz besonders in den Sexualnormen. Das war weit mehr als die Ablösung einiger überkommener Erziehungsziele durch neue. Es änderte sich der gesamte Zeitgeist: Zum ersten Mal wurden Regeln der Lebensführung in Frage gestellt, die seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts unangefochten schienen. Es war verständlich, wenn vor allem ältere Bürger diese Entwicklung als Niedergang empfanden.

Doch in den folgenden Jahrzehnten differenzierte sich allmählich das Bild: Zunächst setzte sich die 1972 entdeckte Entwicklung fort, wenn auch mit verringerter Geschwindigkeit. Ab Mitte der 1990er-Jahre änderte sich die Lage aber erneut: Manche Trends, wie etwa die sinkende Bedeutung der Religion, setzten sich fort, andere dagegen kehrten sich um. Im Jahr 2010 war der Anteil derjenigen, die sagten, Kinder sollten im Elternhaus Höflichkeit und gutes Benehmen oder auch Sorgfalt lernen, deutlich größer als 1967.

Über die mutmaßlichen gesellschaftlichen Ursachen des Wertewandels und die Strukturen der mit ihm verbundenen Generationskluft ist an anderer Stelle ausführlich berichtet worden, weswegen das Thema hier nicht vertieft werden soll. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass rückblickend festgestellt werden kann, dass der Wertewandel der 1970er- und 80er- Jahre nicht der Ausdruck eines allgemeinen Verfalls bürgerlicher Tugenden war, sondern ein Ausschnitt aus einem stets fortschreitenden Prozess. Die Daten zu diesem Thema zeigen gleichsam das „Atmen“ des Zeitgeistes. Über Jahrzehnte hinweg gewinnen bestimmte Werte und Normen an Bedeutung, andere fallen zurück, und mit dem Nachwachsen einer neuen Generation verschiebt sich das Bild erneut. Die Werte und Normen werden in freien Gesellschaften laufend neu ausgehandelt. Doch es spricht nichts dafür, dass sie allgemein, auf breiter Front oder gar dauerhaft verloren gehen.

So sind etwaige kulturpessimistische Tendenzen in der Gesellschaft bis auf weiteres kaum mit Hinweisen auf einen realen Niedergang zu begründen. Sie müssen in der Hauptsache andere Ursachen haben, entweder eine spezifische Veranlagung der Deutschen zum Pessimismus, eine Art „anthropologische Konstante“, wonach Menschen allgemein dazu neigen, die Vergangenheit zu verklären, eine Orientierung an der Vergangenheit, in der man Halt sucht angesichts einer ungewissen Zukunft, oder aber Zeitgeistphänomene, also gleichsam „Modewellen“ des Kulturpessimismus. Möglich wäre auch, dass Änderungen in der Gesellschaftsstruktur den Hang zum Kulturpessimismus befördern. Und tatsächlich lassen sich in den Allensbacher Umfragen Hinweise auf alle diese möglichen Ursachen finden.

„German Angst“

Die These, dass Kulturpessimismus vor allem in Deutschland von großer Bedeutung, gleichsam eine deutsche Spezialität ist, findet sich nicht nur bei Fritz Stern, sondern mehr oder weniger stark indirekt angedeutet, zieht sie sich durch die Kulturgeschichte der vergangenen mindestens zwei Jahrhunderte. Schon lange bevor die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und der Nationalsozialismus das Selbstbewusstsein der Deutschen auf Jahrzehnte erschütterten, beschrieben so unterschiedliche Beobachter wie Madame de Staël, Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche die eigenartigen Stimmungsschwankungen und die wiederkehrenden Selbstzweifel, die die Deutschen zu kennzeichnen schienen. Nietzsche fasste die Situation vielleicht am treffendsten zusammen mit seinem berühmten Bonmot, wonach es die Deutschen kennzeichne, dass bei ihnen die Frage „Was ist deutsch?“ niemals aussterbe.

Vor allem durch die französische intellektuelle Debatte zieht sich seit zwei Jahrhunderten das Befremden angesichts dieses in seinen schwankenden Emotionen unberechenbaren Nachbarn. Madame de Staël schrieb bereits 1813: „In einem Reich, das seit Jahrhunderten zersplittert ist und wo, fast immer durch fremden Einfluss bewogen, Deutsche gegen Deutsche kämpften, kann keine große Vaterlandsliebe existieren, und auch die Liebe zum Ruhm kann nicht sehr lebhaft sein in einem Land, wo es kein Zentrum, keine Hauptstadt, keine Gesellschaft gibt.“ Über alle politischen und gesellschaftlichen Wechsel hinweg, in Zeiten der Freundschaft wie der Feindschaft scheint dieses Befremden stets bestehen geblieben zu sein. Im Jahr 1931 lieferte der Diplomat Pierre Viénot, der später zur Umgebung de Gaulles in dessen Exil in London gehören sollte, mit seinem Essay „Incertitudes Allemandes“ ein Stichwort, das sich bis heute gehalten hat.

Die in der Literatur, von politischen Beobachtern und Philosophen immer wieder beschriebene Wankelmütigkeit der Deutschen ließ sich in den 1980er-Jahren tatsächlich auch mit den Mitteln der Sozialwissenschaften belegen. Im Jahr 1981 wurde in eine große internationale Umfrage, die „Internationale Wertestudie“, eine von dem Chicagoer Psychologen Norman Bradburn entwickelte Frage aufgenommen, bei der die Befragten mit emotionalen Situationen konfrontiert und gebeten wurden, anzugeben, ob sie selbst in letzter Zeit solche Gefühle erlebt hatten. Dazu wurden jeweils fünf positive und negative Gefühlssituationen beschrieben wie „Ich war von etwas ganz begeistert, ganz besonderes interessiert daran“, „Ich hatte mal das Gefühl, alles läuft so, wie ich es mir wünsche“ oder „Ich habe mich sehr niedergeschlagen, sehr unglücklich gefühlt.“ Alle diese Aussagen zusammen bilden eine Skala des, wie Bradburn es nannte, „psychologischen Wohlbefindens“. Man kann auch sagen: Eine Glücksskala. Es zeigte sich, dass die Deutschen nach eigenen Angaben mehr positive und auch mehr negative Gefühle erlebt hatten als alle anderen an der Untersuchung beteiligten Völker. Die Ergebnisse lasen sich wie eine Illustration des schon von Goethe beschriebenen Prinzips „Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt“.

Es gibt Hinweise darauf, dass sich die Neigung der deutschen Bevölkerung zu negativen Emotionen seit den 1980er-Jahren etwas abgeschwächt hat, doch eine gewisse Tendenz zum Alarmismus scheint noch immer vorhanden zu sein. Als der Dortmunder Statistiker Walter Krämer im Jahr 2010 auszählte, wie oft in der Berichterstattung europäischer Zeitungen der vorangegangen zehn Jahre Stichworte wie „BSE“, „dioxinbelastet“ oder „asbestverseucht“ vorkamen, also Begriffe, die für rein theoretisch vorhandene, tatsächlich minimale und damit für die Zeitungsleser praktisch irrelevante Gefahren stehen, stellte er fest, dass unter den vier Zeitungen, die diese Worte am häufigsten verwendeten, drei deutsche waren. Es hat also schon seinen guten Grund, dass sich in der englischen Sprache das Stichwort von der „German Angst“ eingebürgert hat.

Innere Unsicherheit und die Neigung zum Alarmismus wiederum sind anscheinend eng verknüpft mit einer allgemein pessimistischen Lebenseinstellung. Ein anschauliches Beispiel bilden derzeit die Anhänger der AfD, die sich von denen aller anderen Parteien auffallend stark dahingehend unterscheiden, dass sie häufiger Zukunftsängste äußern und allgemein eine negativere Grundeinstellung haben. In eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach vom April 2017 wurde eine „Optimismus-Pessimismus-Skala“ integriert, die methodisch an die bereits beschriebene Bradburn-Skala angelehnt war. Fünf Selbstaussagendienten als Indikatoren für Optimismus:

– Gewöhnlich rechne ich bei dem, was ich mache, mit Erfolg

– Ich sehe meistens das Positive in den Dingen

– Bei Herausforderungen sehe ich meistens eher die Chancen als die Probleme

– Ich sehe der Zukunft mit Hoffnungen entgegen

– Ich glaube an den Fortschritt, dass die Menschheit einer immer besseren Zukunft entgegensieht

Dem standen ebenfalls fünf pessimistische Aussagen gegenüber:

– Ich habe öfter Angst vor der Zukunft

– Ich glaube, dass es mit Deutschland bergab geht

– Ich glaube nicht an das Gute im Menschen

– Ich erwarte nicht viel vom Leben

– Bei neuen Aufgaben habe ich oft das Gefühl, dass ich es vielleicht nicht schaffen könnte

Diese beiden Gruppen von Aussagen wurden zu einer Skala zusammengefügt, bei der jedem Befragten ein Punktwert zugeordnet wurde, je nachdem, von welchen dieser Aussagen er sagte, sie träfen auf ihn zu. Für jeden ausgewählten Optimismus-Punkt erhielt der Befragte den Wert von +1 zugeschrieben, für jeden ausgewählten Punkt, der für Pessimismus stand, den Wert von -1. Die Summe der Einzelwerte ergab dann die individuelle Position auf der Skala. Wer also alle fünf Optimismus-Punkte auswählte, aber keine der Pessimismus-Aussagen, erhielt einen Gesamtwert von +5. Wer alle Optimismus- und auch alle Pessimismus-Punkte auswählte, bekam den Gesamtwert 0 zugewiesen, ebenso wie jemand, der sagte, dass keine der zehn Aussagen auf ihn zutreffen. Im Durchschnitt erreichten bei dieser Frage die Anhänger der FDP einen Wert von 2,36. Knapp dahinter folgten die Anhänger von CDU/CSU und den Grünen mit Durchschnittswerten von jeweils 2.05, dahinter die SPD-Anhänger mit 1,56 und die der Linken mit 0,87. Lediglich bei den Anhängern der AfD überwog die Zahl der negativen Selbstaussagen. Sie erreichten einen Durchschnitt von -0,41. Besonders aufschlussreich ist es nun, die Position der Parteianhänger auf der Optimismus-Pessimismus-Skala mit der Information über den Anteil der links- und rechtsradikalen Anhänger der betreffenden Parteien – ermittelt ebenfalls mit einer Skala aus Selbstaussagen – zu verknüpfen. Dabei zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen beiden Variablen, ein Befund, der die These von Fritz Stern stützt, wonach Kulturpessimismus politischen Radikalismus befördert.

Früher war das Wetter besser

Die Tendenz zu kulturpessimistischen Ansichten ist zum Teil von gesellschaftlichen Moden abhängig. Erkennbar wird dies beispielsweise an den Antworten auf die Frage „Glauben Sie an den Fortschritt, ich meine, dass die Menschheit einer immer besseren Zukunft entgegengeht, oder glauben Sie das nicht?“ Im Jahr 1967, als die Frage zum ersten Mal gestellt wurde, sagten 56 Prozent, dass sie an den Fortschritt glaubten, fünf Jahre später waren es sogar noch vier Prozent mehr. Danach aber änderten sich die Antworten drastisch: Bereits 1977 war der Anteil derer, die diese Antwort gaben, auf 39 Prozent gesunken, in den frühen 1980er-Jahren sank der Wert auf ein Drittel der Bevölkerung. 1983 sagte eine relative Mehrheit von 47 Prozent, sie glaubte nicht an den Fortschritt. Nach der Jahrtausendwende nahm der Fortschrittsoptimismus wieder etwas zu. Die jüngste Umfrage vom April 2019 zeigt aber eine erneute Trendwende: Hier sagten gerade noch 32 Prozent der Deutschen, sie glaubten an den Fortschritt. Das war der niedrigste Wert seit fünf Jahrzehnten.

Auch bei der Frage „Glauben Sie, dass der Fortschritt der Technik das Leben für die Menschen immer einfacher oder immer schwieriger macht?“ ist die gleiche Trendentwicklung zu beobachten: 34 Prozent der Deutschen waren im Frühjahr 2019 der Ansicht, der technische Fortschritt mache das Leben für die Menschen einfacher. Das war der niedrigste Wert seit den frühen 1980er-Jahren. Die Parallelen zu dem oben beschriebenen Auf und Ab des Zeitgeistes, wie es sich in den Erziehungszielen und anderen Werten und Normen niederschlägt, sind auffällig. Ähnliche über Jahrzehnte verlaufende Pendelbewegungen zeichnen sich bei den in der Öffentlichkeit viel diskutierten Themen Politikverdrossenheit und Niedergang des Institutionenvertrauens ab: Beide Tendenzen setzten sich seit den 1970erJahren kontinuierlich fort, erreichten um das Jahr 2005 herum ihren Höhepunkt und sind seitdem wieder rückläufig.

Doch es gibt auch bemerkenswerte Konstanten: Eine gewisse kulturpessimistische Grundhaltung scheint zumindest bei manchen Themen unabhängig von der tatsächlichen Lage im Land oder von den Konjunkturzyklen des Zeitgeistes bestehen zu bleiben. Das betrifft zum Beispiel Aspekte des Lebens, bei denen das Thema Sicherheit berührt wird, und hier besonders, wenn es darum geht, Lebensrisiken einzuschätzen. Viele Bürger haben große Mühe beim Umgang mit statistischen Größenordnungen und können Risiken und Wahrscheinlichkeiten schlecht einschätzen, weswegen hier besonders häufig Irrtümer zu beobachten sind. Im September 2011 legte das Institut für Demoskopie Allensbach in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage den Befragten eine Liste mit 19 Lebensrisiken vor mit der Bitte anzugeben, vor welchen der aufgelisteten Gefahren sie „in letzter Zeit öfter“ Angst hätten. 44 Prozent antworteten darauf, die hätten öfter Angst davor, unheilbar krank zu werden, Krebs oder Aids zu bekommen, 37 Prozent befürchteten, dass ihr Einkommen, ihr Wohlstand sinken könnte. Soweit sind die Einschätzungen sicherlich als realistisch einzuschätzen. Bemerkenswerte Verzerrungen zeigten sich aber an den etwas seltener ausgewählten Punkten. So sagten immerhin 25 Prozent der Deutschen, sie fürchteten sich vor den Folgen der Gentechnik, „etwa, wenn man gentechnisch veränderte Lebensmittel zu sich nimmt.“ Tatsächlich ist kein einziger Fall bekannt, bei dem gentechnisch veränderte Lebensmittel Gesundheitsschäden hervorgerufen hätten. Dagegen fürchteten sich nur 20 Prozent vor Krankenhausinfektionen. 18 Prozent sagten, sie hätten Angst, durch Konservierungsstoffe in Lebensmitteln krank zu werden, obwohl diese tatsächlich jährlich unzählige Menschenleben retten, während nur 13 Prozent Sorge hatten, sie könnten durch verdorbene Lebensmittel krank werden, ein Schicksal, das in jedem Jahr Hunderttausende trifft.

Vor diesem Hintergrund werden Antworten erklärlich, wie die auf die folgende Frage: „Ob unser Leben in der heutigen Zeit gefährlicher ist als noch vor 20, 30 Jahren, darüber kann man verschiedener Ansicht sein. Was meinen Sie, halten Sie das Leben jetzt in unserer Zeit alles in allem für gefährlicher als es noch vor 20, 30 Jahren war, oder für weniger gefährlich, oder hat sich da nicht viel verändert?“ 58 Prozent der Befragten antworteten auf die Frage im August 2016, sie seien der Ansicht, das Leben sei heute gefährlicher als noch vor 20, 30 Jahren, nur sieben Prozent meinten, es sei heute weniger gefährlich. Angesichts der Entwicklung der Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten, der Unfallzahlen und des medizinischen Fortschritts kann man dieses Urteil der Mehrheit der Bevölkerung nur als Irrtum deuten. Dabei ist die Beständigkeit dieser Haltung besonders bemerkenswert: In den Jahren 1952 bis 2007 hat das Institut für Demoskopie Allensbach wiederholt eine ähnliche Frage gestellt. Sie lautete: „Wenn Sie an die Zukunft denken – glauben Sie, dass das Leben für die Menschen immer leichter oder immer schwerer wird?“ 1952 antworte eine klare Mehrheit von 56 Prozent, das Leben würde immer schwerer, nur 15 glaubten, dass es leichter würde. 1978 betrug das Verhältnis 53 zu 18 Prozent und 2007 66 zu 5 Prozent.

Hartnäckig und gegen alle Evidenz hält sich auch die Überzeugung der Bürger, dass die Zahl der Verbrechen immer mehr zunehme. Nach den Daten des Bundeskriminalamtes stieg die Zahl der polizeilich registrierten Straftaten in den 1980er-Jahren bis in die frühen 1990er-Jahre tatsächlich an. Seitdem ist sie aber langsam aber beharrlich rückläufig. Die Zahl der Gewalttaten erreichte im Jahr 2007 einen Höhepunkt, seitdem nimmt sie, von kurzfristigen Schwankungen abgesehen, wieder ab. Doch auf die Frage „Haben Sie den Eindruck, dass die Zahl der Verbrechen in Deutschland ganz allgemein zunimmt oder abnimmt oder in etwa gleichbleibt?“ antworteten im Jahr 2018 64 Prozent der Befragten, sie seien der Ansicht, die Zahl der Verbrechen nehme zu. Nur vier Prozent glaubten, dass sie sinkt. Noch eindeutiger fallen die Antworten auf die Frage aus: „Wie ist Ihr Eindruck: Gibt es in Deutschland in den letzten Jahren eher mehr Gewalttaten, oder eher weniger, oder hat sich da nicht viel verändert?“ 78 Prozent sagten 2017, sie hätten den Eindruck, es gebe immer mehr Gewalttaten, nur zwei Prozent widersprachen. Zu diesen Ergebnissen gibt es wiederum eine aufschlussreiche Parallele aus dem Jahr 1968. Damals wurde im Rahmen einer Repräsentativumfrage die Frage gestellt, was auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik zutreffe. Dazu wurde eine Liste mit acht Punkten zur Auswahl vorgelegt. 72 Prozent entschieden sich daraufhin für die Aussage „Die Verbrechen nehmen immer mehr zu.“ Hier wird so etwas wie eine kulturpessimistische Grundkonstante sichtbar, die von der Realität praktisch unbeeinflusst bleibt.

Auch bei anderen, weniger ernsthaften Themen ist dieses Muster gelegentlich zu beobachten: Im August 2005 wurde die Frage gestellt: „Wenn Sie einmal an Ihre Kindheit zurückdenken. Haben Sie eigentlich den Eindruck, dass damals das Wetter besser war als heute, oder schlechter, oder gibt es da keinen Unterschied. 58 Prozent antworteten daraufhin, in ihrer Kindheit sei das Wetter besser gewesen. 24 Jahre vorher, im Dezember 1981, war die Frage schon einmal gestellt worden. Damals hatten 60 Prozent geantwortet, in ihrer Kindheit sei das Wetter besser gewesen als in der Zeit des Interviews. Diese Antworten bedeuten entweder, dass das Wetter seit Jahrzehnten immer schlechter geworden ist, oder es deutet auf eine Verzerrung der Wahrnehmung hin. Früher war das Wetter auch schon früher besser.

Innovation als Bedrohung

Schließlich gibt es auch Hinweise, dass Veränderungen der Gesellschaftsstruktur – konkret der gewachsene Wohlstand und die Alterung der Gesellschaft – zu einer wachsenden Bedeutung kultur- oder zumindest fortschrittspessimistischer Haltungen beitragen könnten. Dies wiederum hängt mit der Bedeutung des Werts der Sicherheit zusammen. Dass Fortschritt und Sicherheit aus Sicht vieler Bürger in Konflikt miteinander stehen, zeigt sich in vielen Umfrageergebnissen. So führte das Institut für Demoskopie Allensbach im Januar 2018 eine Repräsentativumfrage in Hessen durch, in der die Innovationsfreude der Bevölkerung untersucht wurde. In dieser Umfrage wurde unter anderem die Frage gestellt: „Computer, Internet und andere Technologien spielen heute ja eine immer größere Rolle. Glauben Sie, dass die Digitalisierung das Leben für die Menschen immer einfacher oder immer schwieriger macht?“ 42 Prozent der Befragten antworteten daraufhin, ihrer Ansicht nach mache die Digitalisierung das Leben einfacher, 28 Prozent widersprachen. An anderer Stelle im selben Fragebogen wurde die Frage gestellt „Glauben Sie, dass die Digitalisierung mehr Sicherheit oder mehr Risiko mit sich bringt?“ Gerade 12 Prozent antworteten hierauf, die Digitalisierung bringe mehr Sicherheit, fast zwei Drittel, 62 Prozent meinten dagegen, sie brächte mehr Risiko mit sich.

Diese beiden Umfrageergebnisse illustrieren, wie sehr die Bevölkerung beim Thema Innovation hin- und hergerissen ist. Einerseits ist den meisten Menschen durchaus bewusst, dass der Wohlstand Deutschlands von der Wettbewerbs- und Erneuerungsfähigkeit der Wirtschaft abhängig ist, andererseits sind viele technische Entwicklungen für die meisten Menschen unverständlich und werden nicht selten als unheimlich und eher als Gefahr denn als Chance angesehen, zumal das Bedürfnis der Bürger nach Veränderung generell gering ist. So stimmten in Hessen 57 Prozent der Aussage zu: „Alles in allem geht es Hessen doch gut. Es wäre daher das Beste, wenn sich nicht viel ändern würde.“ In einem solchen Klima haben es diejenigen, die nach Innovationen rufen, schwer.

Offensichtlich hemmt die Angst um die Sicherheit die Innovationsfreude der Bürger: In einer im April 2019 gestellten Frage überreichten die Interviewer ein Bildblatt, auf dem zwei Personen im Schattenriss dargestellt wurden. Jeder Figur war, wie in einem Comic, eine Sprachblase zugeordnet. Die eine sagte: „Meiner Meinung nach müssen wir bereit sein, bestimmte Risiken bei der Erprobung von wissenschaftlichen Entwicklungen in Kauf zu nehmen. Risiken sind nie ganz auszuschließen.“ Die Gegenposition lautete: „Wenn es auch nur ein geringes Risiko für den Menschen gibt, dann sollte man auf wissenschaftlichen Fortschritt lieber verzichten.“ Die Befragten wurden gebeten anzugeben, welcher der beiden Ansichten sie eher zustimmten. 46 Prozent entschieden sich daraufhin für die erste Aussage, aber nicht viel weniger, 39 Prozent, meinten, wenn mit wissenschaftlichem Fortschritt auch nur ein geringes Risiko verbunden sei, sollte man besser auf ihn verzichten, eine Haltung, die, wenn man sie beim Wort nähme, jeglichen Fortschritt unmöglich machen würde.

Solche Ergebnisse erfüllen das Klischee vom grüblerischen, fortschrittsfeindlichen Deutschen, der in allem erst einmal das Negative sieht, doch trotz der oben beschriebenen speziellen Neigung der deutschen Bevölkerung zu negativen Emotionen steht sie hier mit ihrer zurückhaltenden Einstellung zum Fortschritt nicht allein. Einen Hinweis hierauf bieten die Ergebnisse des World Values Survey, einer großen multinationalen Umfrage, mit der regelmäßig die Werteorientierung der Bürger in zahlreichen Ländern weltweit ermittelt wird. In der Befragungswelle der Jahre 2010 bis 2014 wurde dabei auch erfragt, wie viele Bürger der Aussage zustimmen, dass Wissenschaft und Technik der nächsten Generation mehr Möglichkeiten eröffneten. Der Anteil derjenigen, die dieser Aussage „voll und ganz“ zustimmten, war in Deutschland mit 25 Prozent noch größer als in den Vereinigten Staaten und auch in Hongkong und Japan, dies allerdings zu einem Zeitpunkt, als sich die Deutschen auch in den Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach noch etwas zukunftsoptimistischer zeigten als aktuell. Weit entfernt sind die Antworten in den „alten“ Industrienationen aber in jedem Fall von denen in aufstrebenden Ländern wie Polen oder Mexiko, wo wesentlich mehr Befragte in Wissenschaft und Technik eine Chance für die kommende Generation sahen. Man glaubt einen gewissen Sättigungseffekt in den reichen Ländern zu erkennen: Wer mit seinen Lebensbedingungen zufrieden ist, hat keinen Grund mehr, Risiken einzugehen, um die Lage zu ändern.

Die Akzeptanz wissenschaftlichen Fortschritts wird in Deutschland dadurch erheblich erschwert, dass den meisten Bürgern wesentliche Kategorien des wissenschaftlichen Denkens unzugänglich sind. Die Allensbacher Umfragen haben wiederholt gezeigt, dass es, wie oben beschrieben, vielen Menschen schwerfällt, die abstrakten Proportionen der Statistik zu erfassen, mit der Folge, dass neben Lebensrisiken auch Risiken, die mit wissenschaftlichem Fortschritt verbunden sind, oft sehr verzerrt wahrgenommen werden. Auch können die Bürger zwar durchaus die Tragweite neuer technischer und wissenschaftlicher Entwicklungen erfassen, doch sie können sie kaum verstehen. Im Frühjahr 2019 sagten 79 Prozent der vom Institut für Demoskopie Allensbach Befragten, es sei wichtig, dass Deutschland bei der Digitalisierung zu den führenden Ländern gehört. Doch auf die Frage, ob sie denn eine klare Vorstellung davon hätten, was Digitalisierung eigentlich bedeute, mussten die meisten passen.

In einer solchen Situation der Unsicherheit entsteht Raum für irrationale Reaktionen, die sich gut mit dem Ergebnis eines Emotionstests illustrieren lassen, der in die Repräsentativumfrage vom April 2019 integriert war: Die Interviewer sagten hierbei zunächst: „Ich möchte Ihnen jetzt einen Vorfall erzählen, der sich neulich bei einer Podiumsdiskussion über die Entwicklung der sogenannten künstlichen Intelligenz ereignet hat. Einige Experten sprachen über den Stand der Forschung in diesem Bereich sowie über die gegenwärtigen und zukünftigen Einsatzmöglichkeiten dieser modernen Computersysteme. Plötzlich springt ein Zuhörer auf und ruft etwas in den Saal.“ Nun wurde ein Bildblatt überreicht, das eine Figur zeigt, die zwischen anderen Personen, die sitzen, steht, heftig gestikuliert und sagt: „Was interessieren mich Zahlen und Statistiken in diesem Zusammenhang. Wie kann man überhaupt so kalt über ein Thema reden, bei dem es darum geht, dass Maschinen immer stärker unser Leben kontrollieren.“ Nachdem die Befragten diesen Text gelesen hatten, wurden sie gefragt „Würden Sie sagen, er hat ganz recht oder nicht recht?“ Eine klare relative Mehrheit von 48 Prozent der Befragten antwortete auf die Frage, der Zwischenrufer habe Recht. Lediglich 27 Prozent widersprachen. Die Zustimmung zu der offensichtlich irrationalen Haltung zog sich dabei durch alle Bevölkerungsgruppen.

So ist es letztlich ein vages Gefühl der Unsicherheit, das viele Bürger skeptisch auf den technischen Fortschritt schauen lässt und bei ihnen reflexhaft den Wunsch auslöst, dieser Entwicklung zu entgehen, wenn auch den meisten bewusst ist, dass dieser Wunsch unerfüllbar ist. Eine ebenfalls im April 2019 gestellte Frage lautete: „Jemand sagte neulich: ‚Mir sind viele dieser technischen Neuerungen unheimlich. Wir wissen nicht, was da noch alles auf uns zukommt, und ob wir das noch alles beherrschen können.’ Empfinden Sie das auch so, oder halten Sie das für übertrieben?“ 51 Prozent der Befragten sagten, sie empfänden das auch so, nur 36 Prozent hielten die Aussage für übertrieben. Am wichtigsten ist bei dieser Frage der Vergleich zwischen den Altersgruppen: Nur jeder vierte Unter-30-Järhige stimmte dieser Aussage zu, bei den 60-Jährigen und älteren Befragten dagegen, der mit Anstand größten und rasch wachsenden Altersgruppe in Deutschland, waren es 75 Prozent.  Dieses Ergebnis ist nicht überraschend, doch es illustriert deutlich, warum es gerade in alternden Wohlstandsgesellschaften so schwer ist, die Innovationskraft zu bewahren. Die Allensbacher Umfragen haben in den letzten Jahren immer wieder deutlich gezeigt, dass Menschen um so weniger wagemutig und umso mehr auf Sicherheit und Bewahrung des Bestehenden bedacht sind, je älter sie werden. Mit Blick auf das Thema Kulturpessimismus ist diese Entwicklung insofern bemerkenswert, als dass  der Fortschritt in den Augen der Bürger zum Rückschritt wird: Nicht nur ein vermeintlicher kultureller Niedergang wird als Gefahr empfunden, sondern auch die technologische und gesellschaftliche Weiterentwicklung wird zum Anlass für den pessimistischen Blick in die Zukunft. Wie auch immer sich die Gesellschaft entwickelt, aus der Perspektive einer alternden Wohlstandsgesellschaft kann die Entwicklung, allein weil sie eine Veränderung gegenüber dem bisherigen Zustand bedeutet, fast immer negativ gedeutet werden. So wäre es nicht verwunderlich, wenn kulturpessimistische Tendenzen in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten zunehmen würden.

*Dieser Text erschienen zuerst in der Zeitschrift für Politik Nr. 2/2020 – dort mit Grafiken, Fußnoten und Literaturverweisen

Dr. habil. Thomas Petersen ist Kommunikationswissenschaftler, Meinungsforscher und Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allensbach