Die Reiter der Apokalypse (Illustration aus der Broschüre "Apokalypse New What")

Überraschung! Grüne jetzt gegen Angstpolitik

Von Michael Miersch

Auf eines konnte man sich in der Vergangenheit stets verlassen: Die Grünen entdeckten immer neue Gefahren, vor denen sie die Deutschen retten wollten. Der Weltuntergang war ihr ständiger Begleiter. Jetzt lautet ihre neue Erkenntnis: Apokalyptik ist rechts

Es sind immer die anderen. Konzernbosse werfen konkurrierenden Kapitalisten Profitgier vor, Politiker kritisieren das Machtstreben anderer Politiker, Schauspieler echauffieren sich über die Eitelkeit ihrer Kollegen und katholische Priester über sexuelle Verfehlungen von Ungläubigen. Jeder kennt dieses Phänomen, das man schon im Kindergarten beobachten kann. Daher lautet eines der bekanntesten Bibelworte: „Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?“ (Lukas 6,41). Die jüngste Spitzenleistung im Splitter-und-Balken-Sport stammt von einer honorigen Denkfabrik und wurde von der Bundesregierung finanziert, eine Broschüre gegen politische Apokalyptik, erstellt vom Zentrum Liberale Moderne und bezahlt vom Bundesfamilienministerium. Beide Institutionen werden von prominenten Grünen geführt, die zu den einflussreichsten Persönlichkeiten ihres politischen Lagers gehören. Titel des Werks: Apokalypse Now What – Narrativ-Check was hinter radikalisierenden Botschaften steckt.

Für die Denkfabrik und das Ministerium ist die Broschüre ein wichtiges Instrument der Aufklärung über falschen Propheten, die das nahe Ende der Welt verkünden, um damit totalitäre Scheinlösungen aktueller Probleme zu propagieren. Nach dem Motto: Erst den Leuten ordentlich Angst machen, und sich dann selbst als Retter in letzter Minute empfehlen. Leserinnen und Leser erfahren, wie die Feinde der freiheitlichen Demokratie versuchen, mit Apokalyptik folgsame Anhänger zu gewinnen. Vor Neonazis, Impfgegnern, Preppern, Putinisten, Rechtspopulisten und Islamisten wird gewarnt. Sie ködern Leichtgläubige mit Prognosen über Finanzcrashs, Massentod durch Impfstoffe, Umvolkung, Überfremdung, Untergang des Abendlandes und Höllenqualen als Strafe für Dekadenz und Libertinage.

Wer jedoch beim Blättern durch die wirre Welt der Untergangspropheten nach dem präsentesten und meistgeglaubten Apokalypse-Thema der Gegenwart und der vergangenen Jahrzehnte sucht, staunt. Öko-Apokalypse? Die gibt es nicht. Klima-Apokalypse? Eine Unterstellung böser Klimaleugner. Man reibt sich die Augen und liest: „Werden die Mahnungen vor dem Klimawandel als ‚apokalyptisch‘ bezeichnet, erscheinen sie als ‚realitätsferne Panikmache‘ von Untergangsprophet:innen – wodurch im Umkehrschluss die realen Bedrohungen der ökologischen Katastrophe verharmlost oder geleugnet werden.“ Offenbar sind die Herausgeber der Schrift der Überzeugung, dass überall Apokalyptiker auf uns lauern – außer bei den Grünen. Zwar wird ein paar Absätze weiter unten eigeräumt, es gäbe ein bisschen Endzeitgeraune beim „ökofaschistischen Rechtsextremismus“ und gelegentlich sogar bei der „Letzten Generation“. Aber das seien marginale Randerscheinungen. Die Weltanschauung, der sich die Ministerin und der Thinktank zugehörig fühlen, hat mit Apokalyptik rein gar nichts zu tun. Untergangspropheten sind immer die anderen, vor allem die Rechtspopulisten.

Dreister kann man die eigene Geschichte und Gegenwart kaum umdeuten. Die Grünen und ihre zahlreichen Vorfeldorganisationen waren vom ersten Tag an die schrillsten und lautesten Reiter der Apokalypse. Treu begleitet vom Panikorchester der Journalisten, die die Weltuntergänge en gros unters Volk brachten. Ein Blick auf die Titelblätter der großen deutschen Medien seit den 1980er-Jahren genügt, um sich zu erinnern, dass die Uhr in den Redaktionen stets auf fünf vor Zwölf stand und dort bis heute stehen geblieben ist.

Den Einzug in den Bundestag 1983 verdankten die Grünen dem Waldsterben, das die Deutschen damals so sehr in Angst versetzte wie heute der Klimawandel. „Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch,“ verkündete die neue Partei. Ein Jahrzehnt später wurde klar, dass es ein flächendeckendes Absterben der deutschen Wälder – an das fast alle glaubten – nicht gegeben hat. Und dass eine Handvoll Wissenschaftler die regionalen Waldschäden ins apokalyptische übertrieben hatte. Doch niemand nahm es den falschen Propheten übel.

Seither wurde grüne Politik unverdrossen mit dem drohenden Weltuntergang begründet. Der Slogan „Follow the Science!“ war noch nicht erfunden, aber schon damals berief man sich auf berühmte Wissenschaftler, die mit Computermodellen berechnet hatten, dass spätestens im Jahr 2000 das Erdöl und alle anderen wichtigen Ressourcen erschöpft, die Hälfte der Tierarten ausgestorben und Milliarden Menschheit verhungert sein werden. Auch Pflanzenschutzmittel, Stammzellenforschung und medizinische Gentechnik würden Tod und Verderben bringen, prophezeiten die grünen Auguren und ihre journalistische Glaubensgemeinde. Es galt als zweifelsfrei erwiesen, dass das Ozonloch und die Rinderseuche BSE Hundertausenden den Tod bringen werde. Alles Essen vom Acrylamid-Toast bis zum Fipronil-Ei war sowieso vergiftet. Heute ist vergessen, dass die Grünen einst großes Ungemach durch Computer, Mobilfunk und Internet befürchteten und diese Technologien einige Jahre lang entschlossen ablehnten. Wer sich an diese Zeiten erinnert, staunt ungläubig, dass ausgerechnet ein grünes Ministerium heute vor Apokalyptik warnt.

Wie andere vor ihnen, wandelten sich die Grünen von einer ideologischen Bewegungspartei zu einer pragmatischen Klientelpartei. Doch ganz ohne Apokalypse kommen auch die neuen smarten und flexiblen Karrierepolitiker nicht aus. Den deutschen Sonderweg des Atomausstiegs haben sie konsequent zu Ende beschritten, weil für die ergrauten Reste der alten Bewegungspartei Atomkraft die apokalyptische Technologie schlechthin war und man diese als Wähler nicht verlieren will. Auch verbreiten sie weiterhin Gruselmärchen über Pflanzengentechnik. Skurrilerweise in einem Land, in dem Millionen Menschen von gentechnisch erzeugten Medikamenten am Leben erhalten werden. Die Angstkampagne ist nach wie vor so erfolgreich, dass die anderen Parteien von AfD bis SPD wider besseres Wissen mitmachen.

Zur großen alles überschattenden Untergangserzählung wurde im 21. Jahrhundert jedoch der Klimawandel. Kinderpsychologen berichten, dass schon die Jüngsten von Klimaangst geplagt werden. Die feste Überzeugung, dass die globale Erwärmung zu einer apokalyptischen Globalkatastrophe führen werde, gehört zu den Grünen wie Maßkrüge, Trachtenjanker und Kruzifixe zur CSU. Auch hier erfreut sich die Partei einer überwältigenden medialen Begleitmusik. Mittlerweise wird jeder Starkregen in Malaysia und jeder Temperaturrekord in der saudischen Wüste in Deutschland zur Nachricht und als Vorbote der bevorstehenden Klimaapokalypse gedeutet. Klimaaktivisten auf den Straßen und die grüne Energielobby in den Parlamenten sorgen dafür, dass die Schreckensszenarien nicht ausgehen und verbreiten erfolgreich den Glauben, die deutsche Energiewende würde etwas am globalen Klimageschehen ändern.

Dass nun ausgerechnet die Grünen die politische Apokalyptik verdammen, ist eine originelle Volte nach mehr als vier Jahrzehnten Untergangsrhetorik. Ich musste beim Lesen der Broschüre an den bekennenden Alkoholiker Harald Juhnke denken, der in den 1980er-Jahren Reklame für Buttermilch machte. Die Werbung mit dem trinkfreudigen Schauspieler setzte damals auf den Ironie-Effekt. Man wollte das Publikum zum Lachen bringen. Juhnke mit Buttermilch, das war wie Kondomwerbung mit dem Papst…oder als ob die Grünen vor Apokalyptikern warnen.