Letzte Generation

Von Michael Miersch

„Aber viele, die da sind die Ersten, werden die Letzten, und die Letzten werden die Ersten sein,“ heißt es bei Matthäus. Der Satz zählt zu den bekanntesten aus der Bibel und wurde zum Sprichwort. Vielleicht wollen deshalb viele so gern zu den Letzten gehören. In Deutschland und Österreich machte 2022 eine Aktivistengruppe namens „Aufstand der letzten Generation“ von sich reden, die glaubt, die Welt vor dem Untergang retten zu müssen. Zu diesem Zweck protestierten Mitglieder nicht nur indem sie aufhörten zu essen: Sie setzten sich auf viel befahrene Straßen und klebten ihre Hände dort mit Sekundenkleber fest. Womit sie trotz ihrer geringen Zahl das Interesse der großen Medien auf sich zogen. Die klimasündigen Autofahrer warteten geduldig, bis die Polizei die Demonstranten mit Lösungsmitteln vom Asphalt getrennt hatte.

Letzter in der dreihunderttausendjährigen Geschichte des Homo sapiens zu sein, hat einen gewissen Kick. Schließlich kennt man bis heute die Namen Adam und Eva, mit denen nach jüdischer Überlieferung die Menschheit ihren Anfang nahm. Doch sollte man die Bewerber auf den letzten Platz in der Menschheitsgeschichte vor zwei Risiken warnen. Tritt ihre Prophezeiung ein, werden nur sie selbst von ihrer überragenden Bedeutung wissen. Denn nach ihnen kommt niemand mehr.

Zweitens ist die Chance, dass der Weltuntergang tatsächlich jetzt stattfindet, nicht sonderlich hoch. Die Sekundenkleber sind eine nur vorläufig „letzte Generation“, die von der nächsten abgelöst wird.

Auch die Christen waren hin und wieder davon überzeugt, die Letzten zu sein. Zum Beispiel 999, als Papst Sylvester II den Weltuntergang verkündete. Dass der ausblieb, erklärte das Kirchoberhaupt mit seinen erfolgreichen Gebeten. Laut Luther sollte die Welt 1532 untergehen. Dann erprobte er erfolglos zwei weitere Termine. Der Gründer der Zeugen Jehovas Charles T. Russel und seine Nachfolger legten sich viermal auf das Jahr des Weltendes fest.

Es gilt der gute Rat des polnischen Lyrikers Stanisław Jerzy Lec (1909-1966): „Erwartet euch nicht zu viel vom Weltuntergang.“

Eines von 99 Stichwörtern aus dem Buch…

„Schöner Denken 2“

von Josef Joffe und Michael Miersch

Edition Tiamat

120 Seiten