2019 verabschiedete ich mich von Facebook, 2020 von Twitter. Nach zehn Jahren in den Social Media hatte ich den Eindruck, dass man dort kaum noch Originelles, Überraschendes oder geistig Anregendes findet – stattdessen endlose Wiederholungen altbekannter Gesinnungsplattitüden. Weil ich die kurze Form aber mag, finden Sie hier meine Randbemerkungen über Aktuelles und Zeitloses, Wichtiges und Marginales.
Längere Texte finden Sie in meinem Blog.
„Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ist, dass Fiktion Sinn ergeben muss.“
Mark Twain
Heute (18.1.2021) zeigt BILD Urlaubsfotos aus Dubai, wo sich unter anderen Boris Becker und Roberto Blanco tummeln. Wenn ich mich an die Zeitungsberichte über diese beiden Lichtgestalten recht erinnere, sind die doch in argen Geldnöten. Wusste gar nicht, dass man in Dubai so sozial eingestellt ist.
Die Seuche stellt das Elend des deutschen Föderalismus bloß. In der Bildungspolitik wurde die Länderkonfusion jahrzehntelang als gegeben hingenommen. Jetzt ist nicht mehr zu bemänteln, wie abwegig es ist, dass in 16 Ländern kaum koordinierte, zuweilen sogar widersprüchliche, Entscheidungen getroffen werden.
Als 1949 die föderale Struktur für den Westen festgeschrieben wurde, war die Bundesrepublik ein anderes Land. Ferngespräche am Telefon waren schwierig und teuer. Für eine Reise von München nach Frankfurt musste man einen Tag einplanen. Wenn man einmal jemanden ganz schnell benachrichtigen wollte, schrieb man ein Telegramm, das dann der Postbote an die Haustür brachte. Die meisten Menschen in Schleswig-Holstein kannten kein bayerisches Weizenbier und in Filmkomödien irrten lederbehoste Bayern völlig verstört durch Hamburg. Wenn man 2021 Freitags oder Montags im ICE von Berlin nach München (oder umgekehrt) fährt, sitzen dort Passagiere, die in der einen Stadt wohnen und in der anderen arbeiten. Deutschland ist kleiner geworden. Zu klein für Krähwinkel-Politik.
In alten Westernfilmen ging es oft darum, dass der Scherriff die Banditen nicht mehr verfolgen durfte, wenn sie es über die Grenze in einen anderen US-Bundesstaat geschafft hatten. Das kam einem damals absurd vor. Heute erzählte mir ein Freund aus Hamburg, dass dort die Bezirksgesundheitsämter, wenn sie die Kontaktpersonen eines Covid-19-Infizierten nachverfolgen wollen, dies nur innerhalb des eigenen Bezirks dürfen.
„Der Mittelstand wird von der steten Furcht verfolgt, zu verlieren. Jede leise Veränderung der umgebenden Verhältnisse macht ihn zittern. Jedwedes Geschehnis ist ihm eine Teilerscheinung jener großen Verschwörung, die auf seinen Untergang abzielt. Daher auch die rührend-felsenfeste Überzeugung von der Wahrheit semitischer Weltbündelei auf talmudischer Grundlage. Der Mittelstand ist unzufrieden, aber in dieser Unzufriedenheit gänzlich tatlos…Lieber läuft er den Scharlatanen nach, die ihm den Schwindel fortzubringen versprechen und dessen Inkarnation: den Juden.“
Kurt Eisner
Wenn ich die Menschen ändern könnte, würde ich als erstes den Makel der Bedürftigkeit abschaffen. Dass man Bedürftigkeit peinlich verbergen muss, gehört zu den hässlichsten und unangenehmsten Dingen im Leben. Wer einen Kredit benötigt, tut so, als brauche er das Geld nicht. Wer dringend einen Job sucht, gibt vor etliche Alternativen zu haben. Wer sich nach Liebe sehnt, macht auf unabhängig, um nicht lästig zu wirken. „Denn wer da hat, dem wird gegeben“, heißt es in der Bibel. Diese Ungerechtigkeit konnte weder das Christentum noch der Sozialismus oder sonst eine Heilslehre beseitigen. Dass es so ist, erkennen die meisten Menschen in der Lebensphase, in der die Illusionen dutzendweise zerbröseln: am Ende der Kindheit.
Eine neue Briefmarke der schwedischen Post zeigt Greta Thunberg mit fünf Mauerseglern. Was sich der Zeichner dabei wohl gedacht hat? Greta steht für die Angst vor globaler Erwärmung. Mauersegler dagegen mögen es warm. Kein anderer Zugvogel kommt so spät in Europa an und haut so früh wieder ab. Nur in der wärmsten Jahreszeit hält sich der Mauersegler im Norden auf. Den Rest des Jahres verbringt er lieber in Afrika. Es wäre passender gewesen, Greta mit einem Schneehuhn abzubilden. Dieser Vogel gilt als Verlierer der Klimaerwärmung.

Von der Titelseite des Gesundheits-Magazins „fit!“ der DAK:

Umfragen, bei denen es nur ums gut Meinen geht, sind nicht sehr aussagekräftig. Ein mittlerweile fast schon klassisches Beispiel ist die große Sympathie der Deutschen für den Biolandbau. Bei einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Landwirtschaftsministeriums (2018) erklärten 78 Prozent, sie würden Bio-Lebensmittel kaufen und 25 Prozent, sie würden dies sogar häufig tun. Gleichzeitig machten 2018 Bioprodukte 5,5 Prozent des gesamten Lebensmittelumsatzes in Deutschland aus. 2005 schaute ich mir einmal verschiedene damals aktuelle Umfragen seriöser Institute zum Thema Atomkraft an. Von 70 Prozent Ablehnung bis 71 Prozent Zustimmung war alles dabei.
An solchen echten oder scheinbaren Widersprüchen sind nicht die Demoskopen schuld, sondern Journalisten, die die Ergebnisse nicht richtig interpretieren und einordnen. Ob jemand etwas behauptet oder etwas tut ist ein großer Unterschied, auf den man hinweisen sollte. Auch die Formulierung der Frage hat starken Einfluss auf die Antworten (z.B. ob in der Frage Risiken oder Vorteile einer Entscheidung hervorgehoben werden).
Um so erstaunlicher sind die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage der Europäischen Investitionsbank. Demnach sind nur 15 Prozent der Deutschen bereit, für die Rettung des Klimas Verzicht zu leisten. Verblüffend: Sie hätten es ja einfach behaupten können. Umfragen verpflichten zu nichts.
In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts demontierten Wissenschaftlerinnen und Feministinnen Freuds Theorie der weiblichen Sexualität, gemäß der es ein infantiles (klitorales) Lustempfinden gäbe und ein erwachsenes (vaginales). Seither ist (zumindest in Kulturen, in denen über Sexualität gesprochen werden darf) allgemein bekannt, dass das alleinige Vor- und Zurückschieben eines Penis in der Vagina nur wenige Frauen zum Orgasmus führt. Nicht so im Kino. Dort wird Sex immer noch unbeirrt freudianisch dargestellt. So gut wie immer, wenn die Regie dem Publikum zeigen will „Diese beiden haben nun sensationell lustvollen Sex miteinander“, geht das so: Sie blicken sich an, sie küssen sich, sie reißen sich die Kleider vom Leib und dann…ja dann praktizieren sie die Sorte Sex, für die Alice Schwarzer einst das hässliche Wort „Penetration“ einführte. Nach kürzester Zeit mimt die Darstellerin einen vulkanhaften Höhepunkt. Gehört Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ zum Kurrikulum an Filmhochschulen? Wenn ja, sollte das mal geändert werden.
Wie harmlos aus heutiger Sicht die Macht des Springer-Konzerns in der 60er-Jahren erscheint. Damals glaubte man, ein gefräßiges Monopol bekämpfen zu müssen, das die Pressefreiheit bedroht. Und heute? Dass ein halbes Dutzend Männer (die niemand abwählen kann) darüber entscheiden, was öffentlich gesagt und gezeigt werden darf, ist gruselig und widerspricht allem, was liberale Demokratien ausmacht. Hoffentlich gewinnt die Debatte über die Macht von GoogleAppleFacebookAmazon (GAFA) bald an Fahrt und führt zu Konsequenzen. Hoffnung macht, dass in der Geschichte der Vereinigten Staaten immer wieder mächtige Trusts zerschlagen wurden. Und auch Deutsche Regierungen haben bewiesen, dass sie Großkonzerne zerlegen können, wie die Energiewende zeigte.
Die derzeitige öffentliche Fokussierung auf Rassismus und die Kolonialgeschichte wirft in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten ein aufklärendes Licht auf die Verbrechen der Vergangenheit. In Deutschland hat sie eine Nebenwirkung, die man nicht unterschätzen sollte. Sie dient manchen dazu, die größten deutschen Verbrechen zu verkleinern, indem man sie als ein Ereignis unter vielen einordnet.
2012 glossierten Dirk Maxeiner und ich in einer Kolumne das Club-of-Rome-Mitglied Frithjof Finkbeiner, der sein Kind Felix durch die Welt und die TV-Studios schickte, um für das Bäume-Pflanzen zur Rettung des Klimas zu werben. Dafür wurden wir heftig angegriffen, denn Felix spielte damals die öffentliche Rolle, die heute Greta Thunberg innehat: ein unschuldiges, erleuchtetes Kind, das die Welt rettet. Nun hat „Die Zeit“ in einem ausführlich recherchierten Artikel die Finkbeiners unter die Lupe genommen und nachgewiesen, dass sowohl die ökologischen Erfolge als auch die finanzielle Redlichkeit dieses Familienunternehmens höchst zweifelhaft sind. Erfreulich, dass nach jahrelangem Jubel in den Medien über den „Wahren Helden“ (Focus), gute Journalisten dann doch ihren Job machen.
Als älterer Mensch staunt man über neue Kulturfertigkeiten, die man wahrscheinlich selbst nie mehr erlernen wird. Kürzlich sah ich auf einem Spielplatz eine Mutter, die mit ihrer Tochter Tischtennis spielte und dabei telefonierte. Eine fast akrobatische Leistung geistig-körperlicher Koordination. Aus Kindessicht betrachtet wohl eher elterliches Desinteresse.
Die mediale Begleitmusik der Kabinettsberufungen von Joe Biden zeigt, dass identitäres Denken die Gesellschaft tief durchdrungen hat. Da geht es hauptsächlich darum, ob die neuen Ministerinnen und Minister afroamerikanisch sind, indigen, weiblich oder schwul. In Deutschland ist es nicht besser mit dem Proporzdenken, das hierzulande obendrein traditionelle Regionalquoten berücksichtigt. Ich würde lieber von lauter POC-Frauen regiert werden, die alle lesbisch sind und aus Mecklenburg-Vorpommern stammen, aber etwas von ihrem jeweiligen Fach verstehen, als von einem zwanghaft bunten und diversen Kabinett.
Der erste Zwischenruf zitiert den großen Jean-Jacques Sempé:

