Mierschs Zwischenrufe

2019 verabschiedete ich mich von Facebook, 2020 von Twitter. Nach zehn Jahren in den Social Media hatte ich den Eindruck, dass man dort kaum noch Originelles, Überraschendes oder geistig Anregendes findet – stattdessen endlose Wiederholungen altbekannter Gesinnungsplattitüden. Weil ich die kurze Form aber mag, finden Sie hier meine Randbemerkungen über Aktuelles und Zeitloses, Wichtiges und Marginales.

100.000 Jahre ohne Sex

Amazonenkärpflinge (Poecilia formosa) sind eine kleiner Guppy-ähnli­che Fischart aus Nordamerika, die zu 100 Prozent weiblich ist und sich durch Jungfernzeugung vermehrt. Die Töchter entwickeln sich aus unbefruchteten Eiern, sind somit Klone ihrer Mütter. Eigentlich müssten sie ausgestorben sein, denn evolutionär betrachtet hat Klonen gegenüber der sexuellen Fortpflanzung zwei Nachteile. In jedem Erbgut treten irgendwann Fehler auf. Wenn das Genom stets gleichbleibt und nicht aufgefrischt wird, kommen über die Generationen immer neue Erbfehler hinzu, bis es irgendwann keine gesunden Individuen mehr gibt. Außerdem können sich Klone wegen der mangelnder Neukombination ihres Erbguts nicht so schnell an veränderte Umweltbedingungen anpassen. Vermutlich deshalb gibt es sehr wenige Wirbeltierarten, die sich durch Jungfernzeugung vermehren – so zumindest die Theorie. Doch die Amazonenkärpflinge überleben bereits seit über 100.000 Jahren. Jetzt haben Forscherinnen und Forscher des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei herausgefunden, warum die Fischchen so lange auch ohne Gen-Auffrischung durch Sex überleben konnten (Pressemitteilung des IGB vom 11.2.2021). Amazonenkärpflinge sind Hybride, die aus der Verpaarung zweier Arten entstanden sind. Das beutet, jedes Weibchen trägt zwei Garnituren DNA in sich, aus denen es sich wechselweise bedienen kann.

Anders als in der Physik oder Mathematik gibt es in der Biologie keine Regel ohne Ausnahme. Das Leben richtet sich nicht nach starren Formeln, weder beim Amazonenkärpfling noch beim SARS-CoV-2-Virus, noch beim Menschen.

Greenpeace kocht, DER SPIEGEL kellnert

Immer wenn man glaubt, der Journalismus sei nun vollends auf den Hund gekommen, legt Der Spiegel das Niveau noch ein bisschen tiefer. Ein Artikel unter dem Titel „Die Anti-Windkraft-Bewegung“ erschien am 9.2.2021 und berichtete über ein „Netzwerk von Windkraftgegnern, die als vermeintliche Umweltschützer wohl von der Industrie unterstützt gegen geplante Anlagen klagen, wie eine Recherche von Greenpeace zeigt“. Beim weiteren Lesen stellt sich heraus, dass der gesamte Artikel nichts weiter ist als eine Zusammenfassung dieser Greenpeace-Recherche. Beim eigentlichen Kern angelangt, der Frage welche finsteren Mächte die Windkraftgegner finanzieren, ist dann die Luft raus: „Woher das Geld kommt? Auch die Greenpeace-Recherche kann das nicht beantworten.“ Und beim Spiegel gibt‘s ja leider keinen, der recherchieren kann. Dass die Vernichtung von Hundertausenden Vögeln und Fledermäusen durch die Windindustrie, womöglich auch berechtigte Kritik von Naturschützern hervorruft, kommt der Spiegel-Redaktion genauso wenig in den Sinn wie ihren Souffleuren von Greenpeace. Auch kein Gedanke daran, dass es kein Journalismus ist, wenn man völlig unkritisch eine Recherche von Greenpeace abpinselt. Also von einer Organisation, die selbst ein Energieversorgungsunternehmen betreibt (Greenpeace Energy) und Windstrom verkauft. Was enthüllt der Spiegel wohl als nächstes: Eine BMW-Recherche über die Deutsche Bahn? Was Burger King über den Vegetarierbund herausbekommen hat? Es ist noch Luft nach unten.

Mit Relotius nach Utopia

Was haben der ideale Kommunismus und der mentale Orgasmus gemeinsam? Es gibt sie beide nicht. Sie existieren nur im Reich der Utopie beziehungsweise der Fantasie – was zuweilen das Gleiche ist. Hannes Stein gibt uns in seinem neuen Buch „Der Weltreporter“ eine Impression davon, wie es wäre, wenn es solche Unmöglichkeiten tatsächlich gäbe. Außer durch diese beiden Wolkenkuckucksheime reisen wir mit einem etwas obskuren Hamburger Reporter noch kreuz und quer durch zehn weitere Uto- und Dystopien, von der ultimativen Völlerei im Restaurant am Ende der Welt bis zur gemütlichen Münchner Räterepublik unter tropischer Sonne. Am Schluss erfahren wir sogar, was uns im Jenseits erwartet. Wohl zur Überraschung aller Glaubensfanatiker wird es von einer ziemlich tiefenentspannten Runde aus Religionsgründern von Moses bis Mohammed verwaltet.

In seine Erkundungen der Unwirklichkeiten fügt Stein immer wieder aktuelle Bezüge: von Trumps Niedergang bis zum Relotius-Skandal. Die Rahmenhandlung spielt während einer tödlichen Pandemie. Doch diesen Gegenwartsbezug habe er vorausgeahnt, beteuert Stein. Das Buch sei vor der Covid-19-Seuche beendet worden.

Eine Reise durch ideologische Luftschlösser und versponnene Traumwelten geführt von einem journalistischen Märchenerzähler – der manchmal durchaus sympathisch ist.

Hannes Stein: Der Weltreporter. Galiani Berlin. Erscheint am 11. Februar 2021

Gut gesagt (3)

„Jeder Mensch hat das Recht auf schlechte Laune. Man sollte das in die Verfassung aufnehmen.“

Georges Simenon

Wenn die Realität die Satire überholt…

Als vor Jahren einige Autoren die These aufstellten, Essen würde von manchen Menschen mittlerweile ähnlich sündhaft empfunden, wie Sex bei den Viktorianern, hielt ich das für übertrieben – für eine satirische Zuspitzung, um einen merkwürdigen Trend zu kritisieren. Sie hatten Recht. Das schlechte Gewissen beim Essen wird nun schon von der Lebensmittelindustrie vermarktet. „Not Guilty“ heißt eine Marke für Fruchtgummis und Marshmallows. Ein Eiweißdrink wirbt mit dem Slogan „Guilt Free Pleasures“. Lustvoll essen war gestern.

Oh Schreck: Geimpfte werden krank und Pferde fetter

Welcher Ausschnitt veröffentlicht wird, kann die Aussage eines Bildes komplett verändern. Ein bekanntes Beispiel ist ein Foto aus dem Irakkrieg 2003, das in manchen Schulbüchern genutzt wird, um Jugendlichen die Macht der Bildmanipulation zu erläutern. Das Originalfoto zeigt einen Gefangenen zwischen zwei Soldaten. Der eine gibt ihm Wasser zu trinken, der andere hält ihm den Lauf eines Gewehres an den Kopf. Je nachdem, wie man das Foto beschneidet, kann man einen von beiden Soldaten verschwinden lassen, was die Botschaft des Bildes umkehrt.

Bei Lesen der Berichterstattung zur Covid-19-Pandemie muss ich oft daran denken, dass es sich mit Texten genauso verhält. Die tagesaktuellen Nachrichten über Einzelereignisse verändern laufend das Gesamtbild in die eine oder andere Richtung. Ein Mensch erkrankt, obwohl er schon geimpft war. Ein Experte äußert die Vermutung, dass die Grippeimpfung auch vor Covid-19 schützen könnte. Es klappt nicht mit der Impfstoffversorgung für einem Pflegeheim. Ein junger, nicht vorerkrankter Mensch stirbt. Alles ist wahr. Doch wie relevant sind solche Einzelereignisse? Wie wirken sie auf Menschen, die sich nur sporadisch und unsystematisch informieren? Und das sind leider viele.

Gerade in der Berichterstattung über Wissenschaftsthemen, sagen Einzelfälle und anekdotische Ereignisse nichts aus. Ich habe mir mal den Spaß erlaubt und Artikel gesammelt, in denen seltsame Folgen der Klimaerwärmung vorhergesagt werden: Es war so ziemlich jede noch so bizarre Prognose dabei, von „Schweine werden dünner“ bis „Pferde werden fetter“. Zur Aufklärung über den Klimawandel trugen die wenigsten dieser Artikel bei.

Im Internetzeitalter wäre die Lösung des Problems der ausschnitthaften Berichterstattung ganz einfach: Man verlinkt einen Text, der das Gesamtbild erklärt. Doch das möchten viele Redaktionen nicht, die vom Sensationalismus und „Immerschlimmerismus“ getrieben werden. Es es würde ja die Relevanz des erratisch Realitätsausschnitts relativieren.

Zweifel ist der Weisheit Anfang

„Alle Experten sind Experten der Vergangenheit,“ lautet ein Zitat von David Ben-Gurion, „Zukunftsexperten gibt es nicht.“ Diese einfache Erkenntnis schützt vor zu hohen Erwartungen an die Wissenschaft. Im Laufe der Covid-19-Pandemie haben viele Menschen erstaunt bemerkt, dass auch Koryphäen vieles nicht wissen, und dass etliche Erkenntnisse unter den Experten umstritten sind. Die Datenlage weist Lücken und Widersprüche auf. Das Virus hält sich nicht an Prognosen. Welche Maßnahme wie wirkt, kann schlecht vorausgesagt werden. All dies ist völlig normal. Wissenschaft bedeutet, sich nach vorne zu irren. Doch ein realistisches Bild von Wissenschaft ruft bei vielen Menschen Enttäuschung und sogar Aggression hervor. Das ist verständlich, denn in den vergangenen Jahren haben viele Journalisten und Politiker so getan, als gäbe es die Wissenschaft, die alles ganz genau weiß und sich darüber völlig einig ist. Besonders beim Thema Klimawandel galt es quasi als Gotteslästerung, wenn man darauf hinwies, dass auch Experten nur Meinungen haben. Die basieren zwar auf mehr Faktenwissen als bei Laien, aber eben auch auf lückenhaften Daten, Annahmen und vereinbarten Prämissen. Wir haben nichts Besseres als Wissenschaft, um uns in der Welt zu orientieren. Wenn man so tut, als sei Wissenschaft allwissend, erklärt man sie zur Religion. Das nützt am Ende nur den Religionen, Ideologien und den Scharlatanen.

(Die Überschrift ist ein Zitat und stammt von René Descartes)

Putins Protz und Volkes Stimmung

Alexei Nawalny ist es gelungen, der russischen Oppositionsbewegung neuen Schwung zu geben. In 128 Städten wurde am 23. Januar 2021 gegen das Putin-Regime demonstriert. Viele Russen schlossen sich zum ersten Mal in ihrem Leben einem Straßenprotest an. Offenbar hat die neue Fokussierung der Nawalny-Opposition auf die feudale Protzsucht des Präsidenten mehr Menschen mobilisiert als die bisherigen Themen, Menschenrechtsverletzungen, politischen Morde und die immer strenger werdende Zensur. Putins Partei „Einiges Russland“ wird im Volksmund mittlerweile „Partei der Gauner und Diebe genannt“.

Wann wird eine intellektuelle Opposition zur Massenbewegung? Meistens wohl dann, wenn offensichtlich wird, dass die Herrschenden nicht nur Unterdrücker sind, sondern sich obendrein hemmungslos bereichern. Das war wohl meistens so in der Geschichte. Warum? Kleptokratien wie die Putins basieren auf Korruption, die alle Lebensbericht durchdringt. Korruption erschwert und verdirbt den Alltag der Menschen, ob sie es wollen oder nicht. Zensur und politische Repression dagegen spüren die meisten nur dann, wenn sie sich unvorsichtig äußern oder aktiv widersetzen.

Allerdings gibt es wie immer Ausnahmen von dieser Regel. Die Revolutionäre in der DDR hatten wenig Anlass, sich über Ausschweifungen der Bonzen aufzuregen. Denn die Parteiführung wohnte in Wandlitz nicht luxuriöser als westliche Mittelschichtler. Dennoch spürte man damals den starken Wunsch Honecker, Mielke und Co. als Krösusse darzustellen.

Gut gesagt (2)

„Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ist, dass Fiktion Sinn ergeben muss.“

Mark Twain

Pleite unter Palmen

Heute (18.1.2021) zeigt BILD Urlaubsfotos aus Dubai, wo sich unter anderen Boris Becker und Roberto Blanco tummeln. Wenn ich mich an die Zeitungsberichte über diese beiden Lichtgestalten recht erinnere, sind die doch in argen Geldnöten. Wusste gar nicht, dass man in Dubai so sozial eingestellt ist.

Föderale Konfusion

Die Seuche stellt das Elend des deutschen Föderalismus bloß. In der Bildungspolitik wurde die Länderkonfusion jahrzehntelang als gegeben hingenommen. Jetzt ist nicht mehr zu bemänteln, wie abwegig es ist, dass in 16 Ländern kaum koordinierte, zuweilen sogar widersprüchliche, Entscheidungen getroffen werden.

Als 1949 die föderale Struktur für den Westen festgeschrieben wurde, war die Bundesrepublik ein anderes Land. Ferngespräche am Telefon waren schwierig und teuer. Für eine Reise von München nach Frankfurt musste man einen Tag einplanen. Wenn man einmal jemanden ganz schnell benachrichtigen wollte, schrieb man ein Telegramm, das dann der Postbote an die Haustür brachte. Die meisten Menschen in Schleswig-Holstein kannten kein bayerisches Weizenbier und in Filmkomödien irrten lederbehoste Bayern völlig verstört durch Hamburg. Wenn man 2021 Freitags oder Montags im ICE von Berlin nach München (oder umgekehrt) fährt, sitzen dort Passagiere, die in der einen Stadt wohnen und in der anderen arbeiten. Deutschland ist kleiner geworden. Zu klein für Krähwinkel-Politik.

In alten Westernfilmen ging es oft darum, dass der Scherriff die Banditen nicht mehr verfolgen durfte, wenn sie es über die Grenze in einen anderen US-Bundesstaat geschafft hatten. Das kam einem damals absurd vor. Heute erzählte mir ein Freund aus Hamburg, dass dort die Bezirksgesundheitsämter, wenn sie die Kontaktpersonen eines Covid-19-Infizierten nachverfolgen wollen, dies nur innerhalb des eigenen Bezirks dürfen.

Gut gesagt (1)

„Der Mittelstand wird von der steten Furcht verfolgt, zu verlieren. Jede leise Veränderung der umgebenden Verhältnisse macht ihn zittern. Jedwedes Geschehnis ist ihm eine Teilerscheinung jener großen Verschwörung, die auf seinen Untergang abzielt. Daher auch die rührend-felsenfeste Überzeugung von der Wahrheit semitischer Weltbündelei auf talmudischer Grundlage. Der Mittelstand ist unzufrieden, aber in dieser Unzufriedenheit gänzlich tatlos…Lieber läuft er den Scharlatanen nach, die ihm den Schwindel fortzubringen versprechen und dessen Inkarnation: den Juden.“

Kurt Eisner

Frommer Wunsch

Wenn ich die Menschen ändern könnte, würde ich als erstes den Makel der Bedürftigkeit abschaffen. Dass man Bedürftigkeit peinlich verbergen muss, gehört zu den hässlichsten und unangenehmsten Dingen im Leben. Wer einen Kredit benötigt, tut so, als brauche er das Geld nicht. Wer dringend einen Job sucht, gibt vor etliche Alternativen zu haben. Wer sich nach Liebe sehnt, macht auf unabhängig, um nicht lästig zu wirken. „Denn wer da hat, dem wird gegeben“, heißt es in der Bibel. Diese Ungerechtigkeit konnte weder das Christentum noch der Sozialismus oder sonst eine Heilslehre beseitigen. Dass es so ist, erkennen die meisten Menschen in der Lebensphase, in der die Illusionen dutzendweise zerbröseln: am Ende der Kindheit.

Falscher Vogel

Eine neue Briefmarke der schwedischen Post zeigt Greta Thunberg mit fünf Mauerseglern. Was sich der Zeichner dabei wohl gedacht hat? Greta steht für die Angst vor globaler Erwärmung. Mauersegler dagegen mögen es warm. Kein anderer Zugvogel kommt so spät in Europa an und haut so früh wieder ab. Nur in der wärmsten Jahreszeit hält sich der Mauersegler im Norden auf. Den Rest des Jahres verbringt er lieber in Afrika. Es wäre passender gewesen, Greta mit einem Schneehuhn abzubilden. Dieser Vogel gilt als Verlierer der Klimaerwärmung.

Headlines from Hell

Von der Titelseite des Gesundheits-Magazins „fit!“ der DAK:

Sind Sie für Schokolade und gegen Krieg?

Umfragen, bei denen es nur ums gut Meinen geht, sind nicht sehr aussagekräftig. Ein mittlerweile fast schon klassisches Beispiel ist die große Sympathie der Deutschen für den Biolandbau. Bei einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Landwirtschaftsministeriums (2018) erklärten 78 Prozent, sie würden Bio-Lebensmittel kaufen und 25 Prozent, sie würden dies sogar häufig tun. Gleichzeitig machten 2018 Bioprodukte 5,5 Prozent des gesamten Lebensmittelumsatzes in Deutschland aus. 2005 schaute ich mir einmal verschiedene damals aktuelle Umfragen seriöser Institute zum Thema Atomkraft an. Von 70 Prozent Ablehnung bis 71 Prozent Zustimmung war alles dabei.

An solchen echten oder scheinbaren Widersprüchen sind nicht die Demoskopen schuld, sondern Journalisten, die die Ergebnisse nicht richtig interpretieren und einordnen. Ob jemand etwas behauptet oder etwas tut ist ein großer Unterschied, auf den man hinweisen sollte. Auch die Formulierung der Frage hat starken Einfluss auf die Antworten (z.B. ob in der Frage Risiken oder Vorteile einer Entscheidung hervorgehoben werden).

Um so erstaunlicher sind die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage der Europäischen Investitionsbank. Demnach sind nur 15 Prozent der Deutschen bereit, für die Rettung des Klimas Verzicht zu leisten. Verblüffend: Sie hätten es ja einfach behaupten können. Umfragen verpflichten zu nichts.

Freud spukt durch Hollywood und Babelsberg

In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts demontierten Wissenschaftlerinnen und Feministinnen Freuds Theorie der weiblichen Sexualität, gemäß der es ein infantiles (klitorales) Lustempfinden gäbe und ein erwachsenes (vaginales). Seither ist (zumindest in Kulturen, in denen über Sexualität gesprochen werden darf) allgemein bekannt, dass das alleinige Vor- und Zurückschieben eines Penis in der Vagina nur wenige Frauen zum Orgasmus führt. Nicht so im Kino. Dort wird Sex immer noch unbeirrt freudianisch dargestellt. So gut wie immer, wenn die Regie dem Publikum zeigen will „Diese beiden haben nun sensationell lustvollen Sex miteinander“, geht das so: Sie blicken sich an, sie küssen sich, sie reißen sich die Kleider vom Leib und dann…ja dann praktizieren sie die Sorte Sex, für die Alice Schwarzer einst das hässliche Wort „Penetration“ einführte. Nach kürzester Zeit mimt die Darstellerin einen vulkanhaften Höhepunkt. Gehört Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ zum Kurrikulum an Filmhochschulen? Wenn ja, sollte das mal geändert werden.

Enteignet GAFA!

Wie harmlos aus heutiger Sicht die Macht des Springer-Konzerns in der 60er-Jahren erscheint. Damals glaubte man, ein gefräßiges Monopol bekämpfen zu müssen, das die Pressefreiheit bedroht. Und heute? Dass ein halbes Dutzend Männer (die niemand abwählen kann) darüber entscheiden, was öffentlich gesagt und gezeigt werden darf, ist gruselig und widerspricht allem, was liberale Demokratien ausmacht.  Hoffentlich gewinnt die Debatte über die Macht von GoogleAppleFacebookAmazon (GAFA) bald an Fahrt und führt zu Konsequenzen. Hoffnung macht, dass in der Geschichte der Vereinigten Staaten immer wieder mächtige Trusts zerschlagen wurden. Und auch Deutsche Regierungen haben bewiesen, dass sie Großkonzerne zerlegen können, wie die Energiewende zeigte.

Vergangenheitsvernebelung

Die derzeitige öffentliche Fokussierung auf Rassismus und die Kolonialgeschichte wirft in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten ein aufklärendes Licht auf die Verbrechen der Vergangenheit. In Deutschland hat sie eine Nebenwirkung, die man nicht unterschätzen sollte. Sie dient manchen dazu, die größten deutschen Verbrechen zu verkleinern, indem man sie als ein Ereignis unter vielen einordnet.

Gretas gefallener Vorgänger

2012 glossierten Dirk Maxeiner und ich in einer Kolumne das Club-of-Rome-Mitglied Frithjof Finkbeiner, der sein Kind Felix durch die Welt und die TV-Studios schickte, um für das Bäume-Pflanzen zur Rettung des Klimas zu werben. Dafür wurden wir heftig angegriffen, denn Felix spielte damals die öffentliche Rolle, die heute Greta Thunberg innehat: ein unschuldiges, erleuchtetes Kind, das die Welt rettet. Nun hat „Die Zeit“ in einem ausführlich recherchierten Artikel die Finkbeiners unter die Lupe genommen und nachgewiesen, dass sowohl die ökologischen Erfolge als auch die finanzielle Redlichkeit dieses Familienunternehmens höchst zweifelhaft sind. Erfreulich, dass nach jahrelangem Jubel in den Medien über den „Wahren Helden“ (Focus), gute Journalisten dann doch ihren Job machen.

Neue Kulturfertigkeiten

Als älterer Mensch staunt man über neue Kulturfertigkeiten, die man wahrscheinlich selbst nie mehr erlernen wird. Kürzlich sah ich auf einem Spielplatz eine Mutter, die mit ihrer Tochter Tischtennis spielte und dabei telefonierte. Eine fast akrobatische Leistung geistig-körperlicher Koordination. Aus Kindessicht betrachtet wohl eher elterliches Desinteresse.

Identitäre Kabinette

Die mediale Begleitmusik der Kabinettsberufungen von Joe Biden zeigt, dass identitäres Denken die Gesellschaft tief durchdrungen hat. Da geht es hauptsächlich darum, ob die neuen Ministerinnen und Minister afroamerikanisch sind, indigen, weiblich oder schwul. In Deutschland ist es nicht besser mit dem Proporzdenken, das hierzulande obendrein traditionelle Regionalquoten berücksichtigt. Ich würde lieber von lauter POC-Frauen regiert werden, die alle lesbisch sind und aus Mecklenburg-Vorpommern stammen, aber etwas von ihrem jeweiligen Fach verstehen, als von einem zwanghaft bunten und diversen Kabinett.

Mein liebster Buchtitel

Der erste Zwischenruf zitiert den großen Jean-Jacques Sempé: