Mierschs Zwischenrufe

2019 verabschiedete ich mich von Facebook, 2020 von Twitter. Nach zehn Jahren in den Social Media hatte ich den Eindruck, dass man dort kaum noch Originelles, Überraschendes oder geistig Anregendes findet – stattdessen endlose Wiederholungen altbekannter Gesinnungsplattitüden. Weil ich die kurze Form aber mag, finden Sie hier meine Randbemerkungen über Aktuelles und Zeitloses, Wichtiges und Marginales.

„Bollwerke der Demokratie“

In der WELT hat Philipp Welte einen Gastkommentar abgeliefert. Welte ist Vorstand der Hubert Burda Media und Vizepräsident des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger. Er baute seine Karriere bei Burda auf Massenentlassungen von Journalistinnen und Journalisten, auf Sparprogramme und die Einführung pseudo-glamouröser Blättchen, die sich bemühen, junge Frauen für dumm zu verkaufen. In hausinternen Rundschreiben von Welte kamen Worte wie „Journalismus“ oder „journalistische Inhalte“ nicht vor. Stattdessen war von „Produkten“ die Rede und ihrer möglichst kostengünstigen Vermarktung. Schleichwerbung eingeschlossen. Im Hause Burda genießt Welte den Ruf eines komplett rücksichtlosen, antisozialen Karrieristen und trägt schon lange den Spitznamen „Fürst der Finsternis“. Dieser Mensch tritt jetzt als Retter des seriösen Journalismus auf die Bühne, der die hehre Wahrheitssuche gegen die Drachen Google, Facebook und Co. verteidigt.  Zitat: „Wir Verlage verstehen unseren Journalismus als ein Bollwerk gegen diese Bedrohung der Demokratie. Es ist die Aufgabe der freien Presse, unabhängig und wahrhaftig zu informieren – die „Achtung vor der Wahrheit“ ist das erste Gebot des Pressekodex der Verlage.“
Und was will er? Subventionen von der neuen Regierung. In Welte-Deutsch klingt das so: „Es ist richtig, dass die Regierung einen zweiten Anlauf nimmt, um die flächendeckende Versorgung mit periodischer Presse sicherzustellen – das sollte diesmal aber ordnungspolitisch sauber sein und diskriminierungsfrei Zeitschriften und Zeitungen umfassen. Gelingt dies nicht, stehen viele Publikationen vor dem Aus.“

Hier einige „Bollwerke“ Weltes:

„Social media is a deadly game for power and money”

Das Aufkommen der Social Media vor zwei Jahrzehnten weckte große Hoffnungen. Die Utopie einer demokratischen Öffentlichkeit, an der alle teilnehmen können ohne die Gatekeeper der Medienkonzerne, schien in greifbarer Nähe. Leider lief es wie mit dem Kommunismus. Die Idee klang wunderbar. Doch in der Praxis wurde etwas völlig anderes daraus. Gut organisierte Minderheiten, Lobbygruppen, Schleichwerber, Agenten autoritärer Regime, Irre und Fanatiker besetzten das Terrain. Statt demokratischer, pluralistischer Öffentlichkeit bildete sich eine römische Arena, in der immer der schnellste, heftigste und primitivste Reiz gewinnt.

Gestern wurden die philippinische Journalistin Maria Ressa und ihr russischen Kollegen Dmitri Muratow mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. In ihrer Dankesrede stellte Ressa die zynische Strategie der Social-Media-Konzerne in den Mittelpunkt. Sie klagte an, dass autoritäre Herrscher mit Hilfe von Facebook und Co. ihre Desinformation besser unters Volk bringen können als je zuvor. Es lohnt sich ihr zuzuhören. Hier die ganze Rede:
https://youtu.be/m1w3rRRBoq8
Hier ein Auszug:
“…The attacks against us in Rappler (Die Nachrichten-Website, die Maria Ressa gegründet hat) began five years ago when we demanded an end to impunity on two fronts: Rodrigo Duterte’s drug war and Mark Zuckerberg’s Facebook. Today, it has only gotten worse – and Silicon Valley’s sins came home to roost in the United States on January 6 with mob violence on Capitol Hill. What happens on social media doesn’t stay on social media. Online violence is real world violence. Social media is a deadly game for power and money, what Shoshana Zuboff calls surveillance capitalism, extracting our private lives for outsized corporate gain. Our personal experiences sucked into a database, organized by AI, then sold to the highest bidder. Highly profitable micro-targeting operations are engineered to structurally undermine human will. I’ve repeatedly called it a behavior modification system in which we are all Pavlov’s dogs, experimented on in real time with disastrous consequences in countries like mine, Myanmar, India, Sri Lanka, and so many more…”

Betreutes Lesen

Gestern brachte die Post Abdulrazak Gurnahs Buch „Das verlorene Paradies“, das ich bei „Eichendorff 21“ (sehr zu empfehlen!) bestellt hatte. Beim Durchblättern entdeckte ich eine „Editorische Notiz“. Sie weist Leserinnern und Leser darauf hin, dass in diesem Roman Menschen als „Wilde“, „Eingeborene“ oder „Kaffer“ bezeichnet werden. Es folgt die Erklärung, dass dies „in der Regel Figurenrede“ sei, also fiktive Romanfiguren so sprächen. In einigen Fällen benutze auch der Erzähler die Sprache der Zeit, in der die handelnden Figuren verankert sind (der Roman beginnt im 19. Jahrhundert). Es folgt der Hinweis, dass dem Verlag bewusst ist, wie problematisch dies sei.

Ich hatte also nochmal Glück gehabt. Ohne die „Editorische Notiz“ wäre ich beim Lesen von Gurnahs Buch womöglich Rassist geworden.

Spaß beiseite. Nachdem sich mein Erstaunen gelegt hatte, fiel mir ein anderes Buch ein. Irgendwann, als es die DDR noch gab, hatte ich mir in Ostberlin „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ von John Reed gekauft. Das weltberühmte Buch, eine Reportage über die Ereignisse 1917 in Russland, war ein kniffliges Problem für die Diktatur. Denn da es schon 1919 erschienen war und damals auch im Westen verbreitet, konnte man es weder still und heimlich umschreiben noch verbieten, wie so viele andere Bücher. Man hätte ja im Westen eine manipulierte Fassung mit dem Original von 1919 vergleichen können. Außerdem gab es auch noch ein Vorwort von Lenin, der im sowjetischen Machtbereich posthum als Heiliger gepriesen wurde. Das Ministerium für Kultur löste das Problem, indem es dem Buch ein langes editorische Nachwort anfügte. Darin erklärte die Partei den Leserinnen und Lesern, was es damit auf sich habe, dass in dem Buch Personen vorkommen, die in der DDR-Geschichtsschreibung gar nicht existierten, wie etwa Sinowjew oder Trotzki. John Reed habe diese Personen im Eifer des Gefechts falsch eingeschätzt, denn sie waren schon 1919 vollkommen unbedeutend und obendrein schändliche Verräter.

Natürlich ist der damalige Geschichtsrevisionismus nicht das Gleiche wie eine heutige Triggerwarnung. Dennoch fühlt man sich als Leser unangenehm berührt, wenn der Verlag einem schulmeisterhaft erläutert, wie man ein literarisches Werk zu verstehen habe.

Endlich getrennt: Klima und Umwelt

Worauf einige Naturschützer seit Jahren hinweisen, setzt die Ministerien-Aufteilung der Ampelkoalition in politische Zuständigkeiten um: Klimaschutz und Umweltschutz sind nicht das Gleiche. Es wird ein Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geben und eines für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz. Damit nimmt die neue Bundesregierung eine gedankliche Differenzierung vor, die in der deutschen Öffentlichkeit längst noch nicht vollzogen ist. Viele Medienbeiträge tun immer noch so, als seien die Ziele der Klimaproblematik quasi identisch mit Umweltschutz. Manche vernebeln den Unterschied aus Unwissen, andere aus energiepolitischem Kalkül. Wind- und Solarindustrie sind nicht nur sehnsüchtig erwartete Klimaretter, sondern ebenso profitgesteuert wie die Öl- und Kohlewirtschaft (oft sind es dieselben Konzerne). Sicherlich: Wenn man an den Untergang durch apokalyptische Erderhitzung glaubt, sind alle Umweltfragen (und auch alles andere) marginal. Doch in der Praxis haben die großen Umweltprobleme recht wenig mit Klimaerwärmung zu tun. Die Verschmutzung von Luft und Gewässern, die vor allem in ärmeren Ländern nach wie vor ein Riesenproblem darstellt, liegt nicht am CO2-Anstieg. Ebenso wenig die vielerorts nicht funktionierende bis nicht vorhandene Müllentsorgung. Das Verschwinden von Tier- und Pflanzenarten ist auch keine Folge der Erwärmung, sondern liegt vornehmlich am Verlust von Naturgebieten, durch die Ausbreitung der Landwirtschaft und an der Übernutzung von Wäldern, Wildtier- und Fischbeständen. Auch auf Deutschland bezogen, leidet die Natur weniger am Klimawandel als an der Intensivierung der Landwirtschaft, wodurch artenreiche Lebensräume wie etwa magere Blühwiesen verschwinden. Andererseits zeigt sich deutlich, dass viele Maßnahmen umweltschädlich sind, die der Abkühlung des Klimas dienen sollen. Warum steht in diesem Vortrag, den ich 2017 in London hielt. Die neue Regierung plant, dass zwei Prozent der deutschen Landesfläche mit Windkraftanlage bebaut werden. Da klingt nach nicht sonderlich viel. Zwei Prozent das entspricht jedoch fast der Gesamtfläche aller Gewässer in Deutschland (2,3 Prozent) oder aller Autostraßen (2,6 Prozent). Der Klimaminister und die Umweltministerin werden also Einiges zu diskutieren haben.

Reichlich Prognosen und üppiger Konsens

In der WELT vom 8.11.2021 wurde über eine Studie von Medienforschern der Gutenberg-Universität Mainz und der LMU München berichtet. Die Wissenschaftler analysierten Beiträge der Leitmedien zum Thema Klimawandel. Ausgewertet wurden FAZ“, „SZ“, „Bild“, „Spiegel“, „Focus“, „t-online“, WELT, „Tagesschau“, „heute“, „RTL Aktuell“, „ARD Extra“.

Zitat aus dem WELT-Artikel: „Als negativ vermerken die Medienwissenschaftler, dass die Unsicherheiten von Prognosen…nicht ausreichend transparent gemacht wurden. Stattdessen seien Prognosen häufig als gesichert dargestellt worden…Rund 90 Prozent der Beiträge, die sich mit den Erkenntnissen der Wissenschaft beschäftigten, hätten den wissenschaftlichen Konsens hervorgehoben, nur in 10 Prozent sei es um den wissenschaftlichen Dissens gegangen.“

Kleiner Scherz: Die Analyse bezog sich auf die Covid-19-Berichterstattung, nicht auf den Umgang der Medien mit dem Klimawandel. Selbstverständlich werden im Klima-Journalismus Prognosen kenntlich gemacht und wissenschaftlicher Dissens thematisiert.

Flirtende Fische, lüsterne Lurche, verliebte Vögel

Mit der Berliner Künstlerin Claudia Bernhardt habe ich (unter anderem) das Buch „Zwischen Tieren“ realisiert. Jetzt entwickelt sie daraus wunderbare kurze Animationsfilme, die einzelne Arten und ihr Liebesleben vorstellen. Erste Folge: Seepferchen. Vor einiger Zeit produzierte Claudia schon einmal Kurzfilme zu Kapiteln aus „Zwischen Tieren“ mit Lesungen der Schauspielerin Katharina Eckerfeld, zum Beispiel über Hummer. Für alle die wissen wollen, warum Seepferchen non-binär und Hummer hochsensibel sind.

Was ist eigentlich ein Klimastreik?

Die Aktivistinnen von Fridays For Future nennen ihre Demonstrationen „Streik“. Journalisten und Politiker übernehmen diesen Wortgebrauch, ohne einmal zu fragen, was eigentlich ein Streik ist. „Ein Streik ist im Arbeitskampf,“ definiert Wikipedia, „eine vorübergehende Niederlegung der Arbeit durch eine verhältnismäßig große Anzahl von Arbeitnehmern, die ein gemeinsames Ziel im Rahmen ihrer Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse erreichen wollen.“ Ist es ein Arbeitskampf, wenn Jugendliche auf der Straße protestieren, statt zur Schule zu gehen? Wer eine Dienstleitung (den Schulunterricht) verschmäht, der streikt nicht, er boykottiert. Auch das ist eine klassische Form des Protestes – aber nicht das Gleiche wie ein Streik, bei dem Produzenten oder Dienstleister die Arbeit niederlegen. Nach der FFF-Neudefinition bestreiken jeden Sonntag Millionen Deutsche die Kirche, indem sie dem Gottesdienst fernbleiben, Impfgegner bestreiken die Ärzte und die Abstinenzler die Kneipen.

Drei Wahlverlierer

Die deutschen Journalisten

Obwohl Zuschauer, Zuhörer und Leser von fast allen großen und einflussreichen Medien monatelang direkt oder indirekt aufgefordert wurden, DIE GRÜNEN zu wählen, weil ansonsten die Welt unterginge, blieb die Partei weit unter den Erwartungen zurück. Rechnet man das Ergebnis von 14,8 Prozent auf die Gesamtzahl der Wahlberechtigten um, ließen sich fast 90 Prozent der über 18-Jährigen nicht von der medial befeuerten Klimapanik anstecken.

Die Politik der Angst

Offenbar glaubt die große Mehrheit der Deutschen weder an einen Bevölkerungsaustausch (AfD) noch an die Klimaapokalypse (DIE GRÜNEN). Für beide Parteien haben sich ihre Horrorszenarien nicht ausgezahlt. Deutschland hat sich als stabile und besonnene Demokratie gezeigt. Anders als in manchen anderen Ländern Europas wünscht eine klare Mehrheit der Bevölkerung pragmatische Sachpolitik statt vermeintlicher Rettung der Welt bzw. der Nation.

Die Sonntagsfrage

Die in vielen Medien so beliebte Sonntagsfrage („Wem würden Sie Ihre Stimme geben, wenn am Sonntag Wahl wäre?“) kann man sich sparen. Der Hype um diese hypothetischen Umfragen hat offenbar keine Substanz und sagt nichts über das Ergebnis realer Wahlen aus. Auf Basis der Sonntagsfrage wurde 2020 die SPD für tot erklärt und im Frühjahr 2021 Frau Baerbock zur Kanzlerin gekürt.

Der Enkeltrick

Die Initiative „Enkelkinderbriefe“, die mit Fridays For Future und anderen Organisationen von Klimaaktivisten zusammenarbeitet, bietet auf ihrer Website einen Brief-Generator an, mit dem junge Menschen ihre Großeltern überzeugen sollen, im Sinne der Klimaaktivisten zu wählen. Über 6600 haben schon mitgemacht. Auch ich habe es mal ausprobiert. Mit sieben Klicks konnte ich einen schönen Brief erzeugen. Hier der Text, den ich per Generator erstellte. Bei jedem der Sieben Satzbauteile hatte ich die Möglichkeit verschiedene Formulierungen anzuklicken. Diese gefielen mir am besten…

Klick 1: Liebe Oma

Klick 2: Ich wollte dir mal wieder schreiben, weil ich mir Sorgen um die Zukunft mache.

Klick 3: In den letzten Jahren sieht man, welche Folgen der Klimawandel auf der ganzen Welt hat. Bislang sind die Folgen noch zu bewältigen, aber wenn ich mal Kinder habe, werden diese mit den Konsequenzen leben müssen, wenn wir nicht jetzt handeln.

Klick 4: Im September darf ich noch nicht wählen. Ihr aber schon. Und eure Altersgruppe ist die Mehrheit, die über die Politik der nächsten Jahre entscheiden wird.

Klick 5: Bitte gib deine Stimme einer Partei, die sich für eine starke Klimapolitik einsetzt. Damit schenkst du mir und den jungen Leuten eine bessere Zukunft.

Klick 6:  Ich vermisse dich

Klick 7: Hab dich lieb

Leider sind meine Omas schon lange tot. So fehlte mir die Adresse.

 

Weniger Grün? Im Gegenteil

Zitat aus einer Pressemeldung der Universität Augsburg vom 13.08.2021:

„Globales Pflanzenwachstum leidet vermehrt durch Klimaextreme

Eine internationale Studie zeigt, dass insbesondere in den nördlichen Breitengraden im Vergleich von 1982-1998 zu 2000-2016 das Pflanzenwachstum um 10,6 Prozent abgenommen hat. Grund sind Klimaextrem, insbesondere Dürre. Die Ergebnisse, die in der Zeitschrift ‚Nature Climate Change‘ publiziert wurden, verdeutlichen, dass Ökosysteme zunehmend anfälliger für warme Dürren werden und negative Auswirkungen auf die Aufnahme von CO2 durch Pflanzen sowie auf die Landwirtschaft Folgen sind.“

Also weniger Grün auf dem Globus? Könnte (und sollte?) man denken. Erst im vorletzten Absatz erfahren ausdauernde und sorgfältige Leser, dass die festgestellte Veränderung der Vegetation nicht etwa bedeutet, dass das Grün auf der Erde abnimmt. Sondern dass die seit Jahrzehnten anhaltende Zunahme des Pflanzenwachstums (Global Greening) sich um 10,6 Prozent abgeschwächt hat. Die in Deutschland kaum bekannte Tatsache, dass mehr Kohlendioxid in der Atmosphäre als Dünger wirkt und weltweit zu einer erheblichen Ausweitung der Vegetation führt, bleibt unerwähnt. Eine Nasa-Studie ergab, dass die Pflanzendecke des Planeten in den vergangenen 35 Jahren um die doppelte Größe Australiens zugenommen hat.

Rezepte vom Murmeltier

Langweilige Menschen haben zweierlei gemeinsam: fehlende Selbstdistanz und Mangel an Originalität. Meistens weiß man im Voraus, was sie als nächstes sagen werden und kann es innerlich mitsprechen.

In politischen Debatten trifft beides auf Besserwisser zu, die in den Geschmacksrichtungen AfD-braun und eso-grün zu haben sind. Seit Frühjahr 2020 überbieten sich beide mit Forderungen, endlich die richtigen Konsequenzen aus der Pandemie zu ziehen. Die Covid-19-Krise fungiert dabei als Bestätigung all dessen, was sie schon immer sagten.

Schuld an der misslichen Lage sind je nach Geschmacksrichtung die üblichen Verdächtigen. Bei den einen ist es die „Merkeldiktatur“, die das geschundene deutsche Volk auf ewig einsperren will. Bei den anderen ist der Mensch als solcher schuldig. Denn er hat sich zu weit von Mutter Natur entfernt. Ähnlich schlicht und vorhersehbar, wie die jeweilige Ursachen-Analyse sind die Rezepte zur Erlösung von dem Übel. Alle Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung sofort einstellen, empfehlen die einen: Freies Husten für freie Bürger. Gesunde Ernährung, Homöopathie und keinesfalls impfen die anderen. So wie in Einwohner von Punxsutawney alljährlich das gleiche Murmeltier hervorholen, kramen die Covid-Rebellen bei jedem aktuellen Anlass die immer gleichen Rezepte aus ihrem Fundus.

Verglichen damit erscheinen die biederen Protagonisten der Regierungsparteien geradezu originell. Aus der großen Koalition sind Disput, Abwägung, Zweifel und Bereitschaft zur Korrektur zu vernehmen. Keiner ihrer Vertreter tritt als Doktor Allwissend auf. Immerhin.

Das Stalintrauma der DDR

Eine populäre Legende über die frühen Jahre der DDR geht so: Es sei eine Zeit des Idealismus gewesen. Aufrechte Antifaschisten traten an, um ein neues, besseres Deutschland zu erschaffen, eine friedliche, freundliche Republik. So erzählten es Gregor Gysi, Markus Wolf und andere nach 1989 in den Talkshows. Westliche Journalisten plapperten es beflissen nach und viele glauben bis heute daran.  Gemäß dieser Legende soll die DDR erst mit der Zeit der autoritäre Spitzelstaat geworden sein, der sie am Ende war.

Wer sich ein wenig mit DDR-Geschichte befasst weiß, nichts davon ist wahr. Die frühen Jahre waren die repressivsten. Tausende verschwanden in den später 40er- und frühen 50er-Jahren in Gefängnissen, in den wiedereröffneten NS-Konzentrationslagern, wurden in die Sowjetunion verschleppt und dort erschossen, oder in sibirische Arbeitslager verfrachtet. Größtenteils waren die Opfer dieses Staatsterrors keine Nazis, wie von den Hütern der Legende behauptet wird, sondern linke Antistalinisten, Sozialdemokraten und andere demokratische Oppositionelle.

Der Historiker Andreas Petersen schildert in seinem Buch „Die Moskauer“ die Männer, die die DDR gründeten: Ein eingeschworener Orden von Parteifunktionären um Ulbricht und Pieck.  Sie hatten im Moskauer Exil alle Linienschwenks Stalins ergeben bejubelt und die Säuberungen, bei denen mehr Kommunisten hingerichtet wurden als unter den Nazis, fanatisch unterstützten. Bei der Gründung der DDR traten sie in Konkurrenz mit kommunistischen KZ-Überlebenden, die in Buchenwald als „Funktionshäftlinge“ mit der SS kollaboriert hatten und als Helfer am Morden teilnahmen.

All dies war mir durch Literatur und Gespräche mir Zeitzeugen bekannt. Dennoch hat mich „Die Moskauer“ erschüttert.  Manche Abgründe werden einem erst richtig bewusst, wenn man sich auf die Detailebene begibt. Das Buch steckt voller Kurzbiographien, die die Vergangenheit der Moskauer Kader und ihrer Konkurrenten aus den Reihen der KZ-Überlebenden ausleuchten.

Wie tief die DDR-Gründer im Moskauer Exil gesunken waren, ist kaum zu fassen. Nicht nur, dass sie alle ihren Kopf retteten, indem sie Genossen und Freunde denunzierten (was für diese fast immer den Tod bedeutete). Viele von ihnen verloren engste Angehörige, Ehepartner, Kinder, Eltern, durch Stalins Mordmaschine, und blieben dennoch beinharte Stalinisten. Manche waren selbst jahrelang im Gulag, überlebten nur knapp und beteiligten sich danach in der DDR am Aufbau des neuen Unterdrückungsapparates. Nur sehr wenige sprachen oder schrieben je über das Erlebte – selbst nach dem Zusammenbruch der DDR. Die meisten schwiegen eisern ihr Leben lang. Einige schrieben Autobiographien, in denen sie die Jahre in der UdSSR nicht erwähnten oder Märchen über die schöne Zeit im Vaterland des Sozialismus erzählten. Bei manchen ging es so weit, dass sie ihre in Moskau ermordeten Angehörigen zu Naziopfern umdichteten.

Ein Buch, das jeder lesen sollte, der sich für die Geschichte der DDR interessiert. Selten wurden die Jahre vor dem Mauerbau so kenntnisreich ausgeleuchtet. Es waren die prägenden Jahre.

Andreas Petersen: Die Moskauer, S. Fischer Verlag Frankfurt, 368 Seiten

Gut gesagt (14)

„‚Genau‘ scheint das neue ‚ähm‘ zu sein.“

Jutta Ditfurth

Bürgerrat, Bürgerbetreuer und Jubeljournalisten

In der Sowjetunion gab es Versammlungen in den Betrieben, in denen die Beschlüsse der Staatspartei von den Arbeitern bestätigt werden sollten. Damit dann die Staatsmedien berichten konnten, wie einig sich Volk und Partei seien. Stets forderten die Versammelten, dass die Beschlüsse der Partei konsequent umgesetzt werden sollten.

Solche offensichtlich pseudodemokratischen Rituale gibt es in freiheitlichen Ländern nicht – dachte ich bisher. Seit ich die Jubelberichte zum Bürgerrat Klima gelesen habe, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Der Bürgerrat Klima sei eine ganz famose Sache erfuhr ich in Medienberichten. Endlich höre die Politik den Bürgern zu.

Vom 26. April bis 23. Juni tagte der Bürgerrat Klima. 160 Menschen, zufällig ausgewählt aus ganz Deutschland, haben über 50 Stunden lang über mögliche Maßnahmen zum Umgang mit der Klimakrise diskutiert, Vorträge gehört und Empfehlungen erarbeitet.

Dabei wurden sie von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft informiert. Das machte mich neugierig. Ich schaute mir die Website des Bürgerrats an und las die Ergebnisse der Diskussionen. 95 Prozent der Teilnehmer votierten unter anderem für Folgendes:

  • Deutschland soll als globales Vorbild für klimaneutrales Leben und Wirtschaften vorangehen.
  • Im Sinne des Gemeinwohls hat der Schutz des Planeten oberste Priorität, diesem müssen sich wirtschaftliche Interessen und Einzelinteressen unterordnen.
  • Klimaschutz ist ein Menschenrecht und muss ins Grundgesetz aufgenommen werden.

Schöner hätte es die Bundesregierung oder Fridays For Future auch nicht formulieren können. Nun wurde ich neugierig, woher sich die Bürger die Expertise für ihre Konferenz geholt hatten. Auf der Website kann man nachlesen, dass die Teilnehmer von 27 Kuratoren beraten wurden. Außerdem kamen zu jeder der zwölf Sitzungen Referenten, die teilweise mit den Kuratoren identisch waren, teilweise zusätzlich eingeladen wurden. Außerdem standen den Bürgern sechs Faktenchecker zur Seite. Kuratorinnen, Referenten und Checker kamen vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, dem Öko-Institut Freiburg, dem Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung, Scientists for Future, dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, dem Deutsches Klima-Konsortium und ähnlichen Instituten. Professor Claudia Kemfert gehörte ebenso dazu wie Professor Harald Welzer. Zur Einführung ins Thema referierte Professor Stefan Rahmstorf. Somit die komplette Seilschaft der Weltuntergangspropheten.

Kein Medium hielt es für nötig, die geistige Monokultur und das manipulative Konzept dieser Veranstaltung zu thematisieren.

PS: Wie weit der Einfluss des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung geht, wurde auch durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 deutlich, welches die Regierung zu einer forcierten Klimapolitik verpflichtet. Das Gericht erklärte, dass die dramatischen Prognosen, auf denen sein Urteil basiert, unter anderem aus einem populärwissenschaftlichen Buch von Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber stammen.

 

Die verdrängten Bio-Toten

Vor ein paar Tagen suchte ich im Internet aktuelle Artikel, die auf den Atomunfall von Fukushima vor zehn Jahren zurückblicken. Google bot mir Tausende an. Danach bemühte ich mich, Medienberichte über die Masseninfektion durch EHEC-Bakterien im Jahr 2011 zu finden. Etwa ein Dutzend konnte ich entdecken. Wie erklärt sich diese sehr unterschiedliche Wahrnehmung? Nach dem Unfall im japanischen Atomkraftwerk wurden laut dem Wissenschaftlichen Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR) keine strahlungsbedingten Todesfälle oder akuten Erkrankungen beobachtet. In Deutschland führte die 9.000 Kilometer entfernte Havarie zu keinerlei gesundheitlichen Folgen. Die EHEC-Verseuchung war die größte Lebensmittelkatastrophe seit Bestehen der Bundesrepublik. 53 Menschen starben, 4.000 erkrankten, darunter mehr als 800 mit der besonders schweren Verlaufsform HUS (Hämolytisch-Urämisches Syndrom). Ursache waren Bio-Salatsprossen. Daran mag sich fast keiner erinnern. Denn in Deutschland weiß man, Atomkraft ist gefährlich und Biokost ist gesund. Als am 22. Juni 2021 Agrarministerin Klöckner das zwanzigjährige Jubiläum des staatlichen Bio-Siegels feierte, wurde die Katastrophe von 2011 nicht erwähnt.

Gut gesagt (13)

„Gesunder Skeptizismus ist die Basis jeder genauen Beobachtung.“

Arthur Conan Doyle

Rettet die verfolgten Klimaforscher!

Auf dem Parteitag der Grünen blickte die prominente Publizistin Carolin Emcke in die Zukunft. „Die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt wird bleiben,“ prophezeite sie. Die Leidtragenden würden künftig jedoch nicht Juden sein, sondern Klimaforscherinnen. Emckes düstere Vorhersage steht in einer langen Reihe von Bemühungen, alle möglichen Gruppen zu verfolgten Minderheiten zu erklären. Mal liest man, die Muslimen würden im heutigen Deutschland so diskriminiert, wie einst die Juden im NS-Staat. Mal ist es die sogenannte Querdenken-Bewegung, die sich selbst mit den Opfern der Shoa gleichsetzt und deren Anhänger sich gelbe Sterne an die Heldenbrust kleben. Dass solche Versuche Opferstatus zu erlangen komplett realitätsfern sind und millionenfachen Mord an wehrlosen Zivilisten verharmlosen, wurde schon bald nach Emckes Vortrag vielfach und zu Recht kritisiert.

Der Satz über die angeblich von „Ressentiment und Gewalt“ bedrohten Klimaforscher ist jedoch noch in zweiter Hinsicht falsch. Denn die von Frau Emcke ausgemachte Opfergruppe ist das genaue Gegenteil einer verfolgten Minderheit. Klimaforscher sonnen sich seit Jahrzehnten im Glanz allgemeiner Aufmerksamkeit und Bewunderung. Ihre Institute werden mit Geld überschüttet. Zumindest gilt das für den Teil der Klimaforscher, der die Gesellschaft mit populären apokalyptischen Prognosen versorgt. Wer heute als Wissenschaftler eine Karriere anstrebt, macht am besten irgendwas mit Klima. Die Industrien, die von der Energiewende profitieren, geht es prächtig. Ob Siemens oder BMW, Papst oder Popstar: Alle wollen das Klima retten. Damit auch die Kleinsten beim Klimaretten mitmachen, gab es eine Zeitlang sogar Schulfrei an Freitagen. Wo die Parallele zwischen dem heutigen gesellschaftlichen Status von Klimaforschern und der Judenverfolgung liegt, bleibt wohl Frau Emckes Geheimnis.

Allerdings gab es in den vergangenen Jahren in Deutschland Fälle, wo Kritiker der Klimapolitik abgestraft wurden, indem sie ihre Jobs verloren oder von Staatsorganen denunziert wurden. Diese scheint Frau Emcke aber nicht zu meinen

Pflege und Ausbau eines anerkannten Opferstatus ist Ziel aller Lobbyisten. Jeder Rechtsanwalt erklärt seinen Mandanten zum Opfer der Gesellschaft. Das Werk von Terroristen oder Amokläufern wird reflexhaft als „Hilfeschrei“ eines Erniedrigten und Beleidigten interpretiert. Eine beliebte Phrase von Nahost-Kommentatoren lautet, die Palästinenser seien Opfer der Opfer. Demnach sind diskriminierte palästinensische Frauen Opfer der Opfer der Opfer. Wer keinen Opferstatus erobert, macht etwas falsch und wird es zu nichts bringen. Die Armen sind Hartz-IV-Opfer, die Reichen Opfer einer unfairen Neiddebatte. Industrie und Landwirtschaft sind Globalisierungsopfer und wer nicht hierzulande geboren wurde, ist automatisch Diskriminierungsopfer. Und wir alle sind Opfer unserer Erziehung.

Wer Erfolg haben will, macht sich klein und erregt Mitleid. Das haben auch die Mächtigen und Privilegierten entdeckt, die längst nicht mehr mit ihren Insignien protzen, sondern sich als Verfolgte präsentieren. Wladimir Putin barmt, dass die imperialistische NATO ihn umzingeln und bedrohen würde. Donald Trump stellte sich selbst gern als Opfer linker Medienmacht dar. Ob AfD oder ADAC, ob Bischof oder Konzernboss, alle sind sie Opfer von Irgendwem und bitten uns um Hilfe.

Im Gegensatz zum umfassenden Opferkult berichten Menschen, denen tatsächlich Furchtbares widerfuhr, oftmals, dass kaum einer etwas von ihrem Schicksal hören wollte. So erging es vielen KZ-Überlebenden in den ersten zwanzig Jahren nach 1945. Und heute müssen sich DDR-Bürgerrechtler anhören, dass sie nervig und nachtragend sind. Auch Opfer von krimineller Gewalt kennen dieses Phänomen, sofern ihr Schicksal nicht in Raster einer aktiven Lobby-Gruppe passt.

Gesinnungswandel

Kürzlich habe ich gelesen, dass Robespierre ein entschiedener Gegner der Todesstrafe war, bevor er Tausende hinrichten ließ. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Volatilität von Grundsätzen und Standpunkten. Was ja im Grunde nichts Verwerfliches ist, denn Gesinnung kann sich ja auch zum Guten wandeln. „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden,“ lautet ein berühmtes Adenauer-Zitat. Eine Erkenntnis, die insbesondere denen fehlt, die sich mit ihrem Gesinnungsdünkel allen anderen moralisch überlegen fühlen.

Freundliche Gesten

Wer nicht gerade zu radikaler Verdrängung neigt, merkt das Älterwerden von selbst. Dennoch zuckt man zusammen, wenn Fremde einen ans Alter erinnern. Was meist freundlich gemeint ist. Mein erstes Erlebnis dieser Art hatte ich bereits mit Mitte 50, als mir eine junge Frau in der Straßenbahn ihren Platz anbot. Noch deutlicher kam es kürzlich in einem Café. Der junge Kellner frage mich nachdem ich bestellt hatte: „Ist ein doppelter Espresso nicht zu stark für Sie?“

Grüner Rauch

Wann merkt man spätestens, dass grüne Sprüche so belanglos geworden sind, wie Rabatt beim Gebrauchtwagenhändler? Wenn auf Zigarettenpackungen steht: „Our world ist a limited edition.“ Gesehen bei der Marke Marlboro.

Beim Strom hört die Freundschaft auf

Das SZ-Magazin hat eine Rubrik namens „Gute Frage“: Eine Art Benimmlexikon für bessere Kreise mit Wir-retten-die-Welt-Dünkel. In der jüngsten Folge fragt eine besorgte Gattin, wie sie einem Gast höflich klarmachen kann, dass er sein Elektroauto nicht an ihrer Steckdose aufladen soll. In dieser Frage liegt so viel deutscher Nationalcharakter, sie sollte ins Lehrmaterial für Integrationskurse aufgenommen werden.

Die Apokalyptik-Falle hat zugeschnappt

Es melden sich erste Stimmen, die davor warnen, dass ein schneller Ausstieg aus allen Kohlendioxid emittierenden Techniken zu massiven Wohlstandsverlusten, sozialen Verwerfungen und ökologischen Schäden führen wird. Vorsichtig fragen sie, ob man die große Transformation nicht etwas langsamer und damit sozialverträglicher gestalten sollte. Zumeist sind es Ex-Politiker und solche aus der zweiten Reihe, die sich vorwagen und ein paar kritische Bemerkungen machen. Doch die Karawane zieht weiter. Eine ganz große Klimakoalition aus CDU, CSU, SPD, FDP, Grünen und der Partei Die Linke kennt nur noch eine Richtung. Sie können nicht mehr vom Weg abweichen. Selbst schuld. Denn aus Bequemlichkeit und Opportunismus wagte fast kein Politiker, die von Medienkonzernen und Fernsehsendern geschürte Klimapanik in Frage zu stellen. Noch die absurdesten Behauptungen und schrillsten Prognosen wurden ernst genommen. Ministerinnen und Konzernbosse ließen sich bereitwillig von Klimaaktivistinnen vorführen und senkten dabei schuldbewusst die Augen. Auf diese Weise wurde eine spekulative Klima-Apokalyptik als „die Wissenschaft“ geadelt. Vermutlich hofften die Angeklagten damals, dass sich Medien und Aktivisten schon wieder beruhigen würden. Irrtum. Jetzt müssen sie liefern. Wer anerkennt, dass die Menschheit durch Klimaerwärmung in einer lebensbedrohlichen Notstandssituation steckt, der muss soziale, wirtschaftliche und ökologische Kollateralschäden zulassen. Schließlich geht es ums Überleben. Jetzt! Wer zögert oder zweifelt riskiert den Weltuntergang. Die Apokalyptik-Falle hat zugeschnappt.

Gut gesagt (12)

„Sollte es eines Tages niemanden mehr geben, der Außenseitertum nicht als Fluch, sondern als Ehrensache begreift, kann man das ‚Projekt Mensch‘ vergessen. Mehrheiten richten alles zugrunde.“

Max Goldt

Neusprech und Gutdenk auf Russisch

Die Frage, was nach den Maßstäben der Wokeness öffentlich gesagt werden darf und was nicht, führt in Deutschland alle paar Wochen zu Empörungswellen in Social- und anderen Medien, die zumeist in wechselseitigen Zensurvorwürfen enden. In Russland regelt so etwas traditionell der Staat. Anfang Mai wurde ein Gesetzentwurf in Parlament eingebracht, der die „Verneinung der Rolle des Sowjetvolkes bei der Zerschlagung Nazideutschlands und die humanitäre Mission der UdSSR bei der Befreiung der Länder Europas“ verbietet. Er soll verhindern, dass die Gemeinsamkeiten der Herrschaftssysteme Stalins und Hitlers thematisiert werden. Getreu dem Motto aus „1984“: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft.“

Zukunftsrechte aufgrund von Prognosen

Das Bundesverfassungsgericht verpflichtete den Gesetzgeber die Reduktionsziele für Treibhausgasemissionen für die Zeit nach 2030 näher zu regeln. Das jetzige Klimaschutzgesetzt verschöbe hohe Lasten für die Minderung der Emissionen auf die Zeit nach 2030. Um die im Pariser Klimaabkommen festgelegten Ziele zu erreichen, müssten späteren Generationen immer höhere Lasten auf sich nehmen. Dadurch sei ihre Freiheit gefährdet.

Dass die Justiz sich stets dem jeweiligen Zeitgeist unterwirft, hat die Geschichte gezeigt. Offenbar haben die obersten Richter von heute nichts daraus gelernt. Sie übernehmen die alarmistischen Prognosen einiger Wissenschaftler und Klimaaktivisten und behandeln deren Zukunftsszenarien wie Tatsachen.

Man stelle sich vor, in der Vergangenheit hätten Verfassungsrichter die „Rechte zukünftiger Generationen“ aufgrund der damals gültigen Prognosen festgeschrieben. Dann wäre in den 70er-Jahren den Nachgeborenen vermutlich ein Recht auf den Erhalt von Erdölreserven zugestanden worden. Denn es galt als sicher, dass die Ölvorräte bald erschöpft sein werden. Und man glaubte, dass ohne Erdöl kein Wohlstand möglich sei.

SPD setzt weiterhin auf Selbstverzwergung

Sie wollen es einfach nicht lernen. Nach Jahrzehnten auf Schrumpfkurs als billiges Grünen-Imitat gibt es bei der SPD immer noch viele, die weiterhin die Grünen nachahmen wollen. „Führen sie die Bayern-SPD in eine grünere Zukunft?“ titelte BILD (26.4.2021) nach der Wahl der neuen Führungsspitze auf dem Landesparteitag. Die neuen Vorsitzenden Ronja Endres und Florian von Brunn stünden für einen grünen Kurs und rückten die Klimapolitik in den Mittelpunkt. Wohin solche Programmatik führt habe ich hier beschrieben: https://www.miersch.media/liebe-spd/

Distinktionsnahrung

Die Werbekampagne eines Verbundes der Firma Denns mit selbständigen Bioläden behauptet, man würde durch den Kauf von Bio-Waren die Meere reinigen, den Regenwald retten, Hummeln schützen und Kühe glücklich machen. Das sind ziemlich steile Thesen, die da einfach mal so rausgehauen werden. Darunter prangt stets ein Satz, der offenbar als Claim der Zielgruppe eingehämmert werden soll: „Sei Teil einer besseren Welt!“ Dies offenbart, warum es bei „Bio“ eigentlich geht: um Distinktion. Ich musste beim Anblick dieser Plakate an einen Text der Autorin Ellen Daniel denken. Kein Mensch mit Abitur, schrieb sie einmal, würde heutzutage noch sagen: „Wir sind etwas Besseres.“ Stattdessen sage man: „Wir kaufen nur Bio.“ Das klingt ganz anders, hat aber dieselbe Funktion.

Gut gesagt (11)

„Jegliche exklusive Identität zeigt Ausschluss von anderen, die nicht dazugehören, zeigt Verkennen der grundsätzlichen Missachtung, manchmal Verachtung für die Leiden anderer menschlicher Gruppen.“

Alfred Grosser

Behörden machen auf NGO

Auf Münchner Litfaßsäulen kann man derzeit eine Kampagne bewundern, die „Respekt“ für städtische Bäume fordert. Bäume würde durch Baustellen beeinträchtigt, erklären die Plakate, sie bräuchten mehr Platz und sollten „in Würde altern“ dürfen. Richtig, denkt der Baumfreund, wird jedoch beim Absender der Kampagne stutzig. Es ist das Referat für Stadtplanung und Bauordnung, also die Behörde, die für die Bäume in München zuständig ist. Von ihr sollten Bürger erwarten dürfen, dass sie nicht Forderungen aufstellt, sondern sich ordentlich um das Stadtgrün kümmert. Was kommt als nächstes? Eine Plakatkampagne der Polizei für Bekämpfung der Kriminalität? Oder eine des Oberbürgermeisters für besseres Regieren?

Die Polarisierung des Trinkens

Dass die politische Öffentlichkeit immer polarisierter wird, ist schon eine ganze Weile Thema. Doch wer hätte gedacht, dass die Polarisierung auch die Trinkgewohnheiten erfasst?  Laut einer repräsentativen Studie der Krankenkasse „pronova BKK“, die am 13. April 2020 veröffentlich wurde, trinken zehn Prozent der Deutschen seit Beginn der Covid-19-Krise mehr Alkohol. Dagegen haben 14 Prozent ihren Konsum reduziert. Besonders extrem zeigen sich die gegenläufigen Entwicklungen in der Gruppe der unter 30-Jährigen: Ein Fünftel trinkt mehr, ein Fünftel weniger als zuvor.

Und wer trinkt besonders viel? „Unter denjenigen, die keine Woche ohne Alkohol verleben, sind besonders viele Akademiker“, heißt es in der Veröffentlichung. „Jeder Zweite mit Hochschulabschluss zählt zu den wöchentlichen Konsumenten, jedoch nur gut jeder Vierte ohne oder mit einfachem Schulabschluss.“